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Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Thomas
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haben. Warum sie allerdings einen Ort der Zuflucht und der Gemeinschaft für die Bewohner der Hölle schaffen sollten, ist mir ein Rätsel, und ich nehme nicht an, dass ich es jemals lösen werde.
    Die Stadt wirkte mit jedem Schritt noch größer, weiter und imposanter, wie die zerklüftete Silhouette einer Gebirgskette. Sie erinnerte mich an den mächtigen Vulkan, dessen Bekanntschaft ich nahe Caldera gemacht hatte. Aber während der Vulkan gigantische Wolken in den Himmel ausstieß, die ihn noch mehr verdunkelten und bedeckten, war in Oblivion das Gegenteil der Fall: Der Himmel über der Stadt glühte orange, so als breche gerade die Morgen- oder die Abenddämmerung herein. Die übliche Wolkendecke, die eine freie Sicht auf den Himmel bisher stets verhindert hatte, öffnete sich in einem ungefähren Kreis weit über der Stadt. Es trat jedoch keine höhlenartige Decke aus Stein zum Vorschein, wie ich es eigentlich erwartet hatte – sondern Lava.
    Ein Ozean aus geschmolzenem Gestein, in dem das Licht sanft hin- und herwogte. Es war einfach erstaunlich – ein hängender Ozean. Wie er sich der Erdanziehungskraft widersetzte, war mir schleierhaft. Versteckt sich dieser Anblick überall hinter der Wolkendecke der Hölle? Und warum wurde er hier enthüllt? Wenn überhaupt, dann müsste man doch annehmen, dass sich der Himmel über einer Stadt durch die Luftverschmutzung nur noch mehr verdunkelt. Aber vielleicht hat die Verschmutzung die Wolkenschicht über der Stadt ja auch irgendwie weggebrannt oder zerfressen.
    Ich ging weiter und staunte mit offenem Mund über die Stadt und ihren geschmolzenen Himmel, als ich hinter mir ein Klappern hörte, das sich mir schnell näherte. Ich blickte über die Schulter zurück und sprang sofort von dem breiten Feldweg, als ich eine seltsame Kutsche auf Oblivion zurasen sah. Als sie näher heranrollte, konnte ich über ihre widerwärtige Eigenartigkeit nur staunen: Sie sah aus wie Cinderellas verrottete Kürbiskutsche. Das Gehäuse bestand aus aufwendig verschlungenem schwarzem Eisen, sehr blumig und filigran, und selbst die Räder waren aus Metall. Dieser barocke Rahmen stützte eine riesige orangefarbene Kugel, die irgendwie organisch aussah und von der ein seltsames Leuchten ausging.
    Die Kutsche wurde wie eine Rikscha von einer Gruppe von sechs Verdammten gezogen, die mit richtigen Geschirren vor die Kutsche gespannt waren: vier Männer und zwei Frauen, alle nackt, verschwitzt und verstaubt. Die beiden Frauen am Kopf der Gruppe trugen jede eine Ledermaske, aus deren hinterem Ende eine schwarze Feder wuchs. Jedem Lasttier waren allem Anschein nach die Augen entfernt worden, wobei man dicke schwarze Schrauben in die Höhlen gedreht hatte, um ein Nachwachsen zu verhindern.
    Zunächst dachte ich, in der mächtigen orangenen Kugel sitze der Kutscher – dann wurde mir klar, dass sie der Kutscher war .
    Das sphärische Wesen hatte vorne ein riesiges Gesicht, und seine kleinen Augen gingen in den gelatineartigen, durchsichtigen Fettrollen beinahe verloren … Seine Nase war breit, und der große Mund mit den dicken Lippen spaltete die Kugel beinahe in zwei Hälften. Keine Gliedmaßen, keine Ohren, nur dieses Gesicht. Seine Augen sahen vor dem Hintergrund des glühenden Fleisches vollkommen schwarz aus. Es schien sich um eine halb ätherische Kreatur zu handeln. Sie erinnerte mich an die Art, wie Kinder Sonnen malen: mit einem milden Lächeln im Gesicht. Es erinnerte mich aber auch an den abgehackten Kopf einer riesigen Buddha-Statue. Ich wusste jedoch, dass der freundliche Schein dieses sonnigen Buddha-Lächelns und der fröhlichen Augen trog.
    Rollten die schwarzen Murmeln, die Augen dieses Dings, etwa ganz leicht in meine Richtung, als die Kutsche an mir vorbeirumpelte? Ich selbst senkte meinen Blick – scheinbar respektvoll, in Wahrheit jedoch aus Furcht. Die Kutsche hielt nicht an … und wurde, und dafür war ich sehr dankbar, in der Ferne schon bald immer kleiner … sie würde die Stadt lange vor mir erreichen.
    Nach und nach erkannte ich immer mehr kleinere Pfade zu beiden Seiten des Hauptweges, der sich aus dem Wald herausschlängelte. Und ich traf auf Menschen, die auf diesen Nebenpfaden auftauchten und in dieselbe Richtung wollten wie ich. Manche von ihnen stolperten nur verwirrt an mir vorbei, möglicherweise Neuankömmlinge wie ich selbst … oder vielleicht hatten sie ihre geistige Gesundheit auch schon vor langer Zeit aufgegeben. Vielleicht waren diese armen Seelen aber

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