Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
das noch – einen Bolzen? Er ist viel kürzer als ein normaler Pfeil und sieht aus wie ein kleiner Speer. Die Spitze muss mit schonungslosen Widerhaken versehen sein, denn nachdem er mich zu Boden gezwungen und ich versucht hatte, ihn wieder herauszuziehen, stellte ich fest, dass mir dies nicht möglich war, ohne mein Fleisch aufzureißen. Er ist komplett durch meinen Brustkorb gegangen und bis unter meine Rippen vorgedrungen. Ich befürchte, dass er sich tatsächlich in einer von ihnen verhakt hat.
Verzweifelt rappelte ich mich wieder auf, stürzte noch tiefer in den Wald hinein und versuchte fieberhaft, meinen Jäger abzuschütteln. Meine Lungen brannten so fürchterlich, dass ich mich fragte, ob sie sich wohl bereits mit Blut füllten. Jeden Moment rechnete ich damit, dass sich ein zweiter Bolzen direkt in meinen Hinterkopf bohrte …
Doch es wurden keine weiteren Bolzen mehr verschossen. Mein Jäger war verschwunden. Da er mein Fleisch ja nicht zwingend zu Nahrung oder meine Haut zu Leder verarbeiten musste, schien er sich bei seiner Freizeitbeschäftigung nicht übermäßig anstrengen zu wollen.
Das ist nun schon Stunden her. Ich blute zwar nicht mehr, aber die rasiermesserscharfe Pfeilspitze reibt nach wie vor meine Muskeln auf und schleift meine Knochen, wie ein Messer an einem Wetzstein. Hier besteht zwar kein wirklicher Bedarf an Ärzten, aber ich hoffe trotzdem sehr, dass es in Oblivion jemanden gibt, der bereit ist, mir zu helfen …
Ich empfinde es als Ironie, dass ich dieser Dämonin geholfen habe, indem ich den Speer, den ich noch immer bei mir trage, aus ihrem Körper entfernte, dass jetzt aber niemand hier ist, der mir helfen kann.
Ich habe mich auf einen mit bläulichen Flechten gesprenkelten Stein gesetzt, um mich auszuruhen. Und um den letzten Schluck Wasser aus meiner Flasche zu trinken. Ich hoffe, bald aus diesem trostlosen Wald hinauszufinden. Was, wenn er sich noch viele Meilen weit erstreckt? Wenn dieser Wald größer ist als alle Kontinente der Welt zusammen? Ich glaube, die Hölle ist größer als die Erde … auch wenn ich gehört habe, dass nun mehr Menschen auf der Welt leben, als je zuvor auf ihr gestorben sind. Dieser ganze Platz wartet nur darauf, von den unzähligen Generationen gefüllt zu werden, die noch folgen werden. Vielleicht wird man diesen Wald dann abholzen, um Platz für weitere Orte wie Caldera zu schaffen, für Städte wie Oblivion.
Ich habe mich schon zu sehr in mein Tagebuch vertieft. Es gibt keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Und ich habe nach wie vor Angst, dass dieser Engel mich doch noch einholt. Also – weiter.
Später.
Ich habe keine Ahnung, wie viele Stunden ich durch diesen Wald gewandert bin. Vielleicht war es sogar mehr als ein Tag. Schließlich habe ich durch Zufall den Pfad wiedergefunden, der durch ihn hindurchführt, aber vielleicht war es auch ein anderer. Er war etwas breiter und wies außerdem Fahrrillen auf, die ganz offensichtlich von verschiedenen Rädern stammten. Und er verlief kerzengerade – so gerade, dass ich Oblivion in der Ferne am Horizont aufragen sehen konnte.
Ich habe zuvor ja bereits erwähnt, dass mich die pavianartigen Teufel mit den Spiralen-Brandzeichen an die fliegenden Affen aus dem Film Der Zauberer von Oz erinnern. Es fällt mir nicht schwer, den Film erneut als Vergleichsobjekt heranzuziehen: Meine Umgebung war so offensichtlich surreal, dass sie wirkte, als sei ich in einer riesigen, sehr detaillierten Filmkulisse gelandet. Der Wald erinnerte mich an den Zauberwald, durch den Dorothy und ihre Freunde wanderten, und die Stadt hinter dem Rand des großen Waldes ließ mich sofort an die Smaragdstadt denken, die am Ende des gelben Ziegelsteinwegs auftauchte.
Die goldgelben Ziegel sind allerdings längst weggekarrt worden, und die Smaragdstadt hat schon bessere Tage gesehen.
Oblivion ist eine Stadt der Dunkelheit. Je näher ich ihr kam, desto stärker wurde dieser Eindruck. Es sollte jedoch noch Stunden dauern, bis ich sie tatsächlich erreichte. Sie erschien mir ebenso weit entfernt wie hoch aufgetürmte, dunkle Gewitterwolken. Ich erkannte, dass die Stadt überwiegend aus schwarzem Metall erbaut worden ist – genau wie die Avernus-Universität, aber in noch weit größerem Stil als diese ohnehin schon sehr imposante Einrichtung. Dies scheint kein Ort wie Caldera zu sein, den die Verdammten für sich selbst erbaut haben – hier müssen die Dämonen eine große, vermutlich sogar organisatorische Rolle gespielt
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