Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
keinen baldigen Rücktritt von Mubarak geben – was ist denn da passiert in den letzten 24 Stunden?
Karim El-Gawhary: Ich glaube, zwei Dinge sind passiert. Zum einen hat der Druck im Inneren enorm zugenommen. Heute war ein wahnsinnig chaotischer Tag in Kairo, nicht nur, dass sich wieder sehr viele Menschen auf dem Tahrir-Platz getroffen haben, es gab auch zahlreiche Streiks überall im Land, auch hier in Kairo gab es zum Teil chaotische Szenen. Ich war jetzt beim Streik der Mitarbeiter der Telekommunikation, es gab Streiks der Postarbeiter, Streiks der Eisenbahnarbeiter, das heißt, zu den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz gesellten sich die Leute, die an ihrem Arbeitsplatz protestiert haben, und das kann man vom Regime eigentlich nicht mehr unter Kontrolle kriegen. Das war sicher einer der Gründe für das, was jetzt gerade passiert. Der zweite Grund ist: International ist Mubarak eigentlich total isoliert, die Amerikaner haben ihm sehr deutlich signalisiert, dass seine Zeit abgelaufen ist. Während sie vor wenigen Tagen noch davon gesprochen haben, dass es einen langsamen Übergang geben sollte, sind sie nun immer deutlicher geworden und haben gesagt, dass es eigentlich jetzt Zeit wird, dass der Wandel schnell geht und dass Mubarak jetzt abdankt. Beides, der innere Druck und der äußere Druck, haben wahrscheinlich zu der Situation geführt, die wir gerade erleben.
ORF: Wir haben in den letzten Stunden immer wieder Bilder vom Tahrir-Platz im Zentrum Kairos gesehen, wo unter den Demonstranten schon riesige Vorfreude herrscht und große Erwartung an die Rede von Präsident Mubarak, sollte er heute Abend abtreten. Sie haben selber gesagt, man weiß nicht, was nachher kommt – wird das unter den Demonstranten wirklich Freude auslösen oder wird da doch auch ein bisschen Zweifel und Skepsis bleiben?
Karim El-Gawhary: Das, was auf dem Tahrir-Platz passiert, ist, glaube ich, ein doppeltes Signal: Da sind jetzt wieder hunderttausende Menschen zusammengekommen, ganz spontan, einmal, um möglicherweise ihren Sieg zu feiern, dass Mubarak abdankt, aber auch, um noch einmal wirklich Präsenz zu zeigen, weil auch sie nicht wissen, was stattdessen kommt.
ORF, Sondersendung, 10.2.2011, 20:00, 2. Schaltung
ORF: Mubaraks Rede sollte eigentlich in diesen Minuten, um 21 Uhr, stattfinden, was ist passiert?
Karim El-Gawhary: Nun, zunächst einmal: Ich habe gerade, zwischen unseren zwei Gesprächen, mit Leuten auf dem Platz gesprochen. Die Stimmung dort auf dem Platz ist zwar einerseits feierlich, aber die Leute trauen dem Frieden noch nicht so ganz, sie warten jetzt wirklich ab, was passiert. Aber was man sagen kann und was mir die Leute auf dem Platz gerade gesagt haben, ist: Das Militär verhält sich seit ein, zwei Stunden vollkommen anders, es ist gerade extrem freundlich zu den Demonstranten: Am Eingang, wenn man auf den Tahrir kommt, führt es freundliche Gespräche mit den Leuten, da hat sich im Militär die Stimmung geändert, offensichtlich hat man möglicherweise auch eine andere Order bekommen – es gibt also ein anderes Verhalten des Militärs, die Leute sind, wie gesagt, feierlich, aber doch irgendwie noch vorsichtig optimistisch, doch sehr skeptisch.
ORF: Ist es denkbar, dass das einfach auch Strategie der Militärangehörigen ist? Wollen die Menschen überhaupt das Militär anstelle Mubaraks?
Karim El-Gawhary: Das ist die große Frage: Wenn jetzt Mubarak weggeht, was passiert dann stattdessen? Wenn jetzt tatsächlich das Militär übernimmt – und dieses große Treffen des Oberkommandos ohne Mubarak war ja ein Zeichen in diese Richtung –, dann ist die Frage, was das Militär machen wird. Wird es das Ganze an sich reißen, also erst einmal das alte System damit retten? Oder wird es mit den Demonstranten, eventuell mit der Opposition, in einen Dialog treten? Der Dialog zwischen den Demonstranten und dem neu ernannten Vizepräsidenten Omar Suleiman ist ja in den letzten drei Tagen vollkommen abgerissen. Und wird das Militär zusammen mit den Demonstranten und der Opposition eine Art Übergangsregierung organisieren, die eben dann die einzige Aufgabe hat, richtige, demokratische Wahlen mit internationaler Beobachtung abzuhalten? Das ist jetzt die große Frage. Wenn das Militär kommt: Wird es an dem Alten festhalten oder wird es zügig das neue, das demokratische Ägypten organisieren?
ORF, ZIB Sondersendung , 10.2.2011, 20:00, 3. Schaltung
ORF: Wir schalten nach Kairo zu Karim El-Gawhary. Was sind die
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