Tagebuch eines Engels
schnitt sie ein weiteres Bild aus der Zeitung aus: die Titelseite eines Buches, auf der Ayers Rock mit einem Wal abgebildet war. Das Buch hieà Jonahs Gefängnis und war von K. P. Lanes. Vielleicht möchtest du das Buch gerne lesen, sagte ich ihr.
Sie rief die Rezeption an.
»Schönen guten Tag, Miss Delacroix. Was kann ich für Sie tun?«
»Gibt es irgendwo in der Nähe eine Bibliothek, die offen hat?«
»Nein, tut mir leid, Maâam, es ist ja bereits halb elf abends. Die Bibliotheken öffnen erst morgen früh wieder.«
»Oh.«
»Kann ich sonst etwas für Sie tun?«
»Ja, können Sie. Haben Sie schon mal von einem Autor namens K. P. Lanes gehört?«
»Ja, das kann man wohl sagen. Er ist mein Onkel.«
»Ist das Ihr Ernst? Ich habe gerade eine Abbildung von seinem Buch im Sydney Morning Herald gesehen.«
»Ja, wunderschön. Haben Sie es gelesen?«
»Nein, ich bin ja erst heute Morgen angekommen â¦Â«
»Würden Sie es gerne lesen?«
»Ja, eigentlich schon â¦Â«
»Na, prima. Ich lasse Ihnen mein Exemplar aufs Zimmer bringen.«
»Ach, das wäre wirklich ganz toll.«
»Kein Problem.«
Sie las das Buch in einem Rutsch durch, dann schlief sie ein und wachte erst nach zwölf Stunden wieder auf.
Das war nun wieder eine Episode, an die ich mich nicht erinnern konnte. Es sah ganz so aus, als seien meine Lebenskarten neu gemischt worden. Während ich K. P. Lanes in der Lobby eines der vielen Verlage, bei denen ich um Arbeit bettelte, begegnete, traf Margot ihn in der Lobby des Hotels.
Das war der erste von vielen weiteren Unterschieden zu meinem eigenen Leben. Ich fing an, die Verlässlichkeit meines Gedächtnisses infrage zu stellen. Und ich verstand: Wir sind wirklich verschieden. Was Margot tut und was ich tue, ist nicht mehr dasselbe. In diesem Moment beschloss ich, Margot loszulassen . Lass los, Ruth.
Die Version von Ereignissen, an die ich mich erinnerte, wich dann allerdings nicht völlig ab von dem, was Margot nun durchlebte. Kit â oder K. P. Lanes, als der er im Literaturbetrieb bekannt war â war ein pensionierter Kriminalbeamter, der sein ganzes Leben lang verschiedene Arten von Texten geschrieben hatte. Er war groÃ, sanftmütig und sehr scheu. Er hatte zehn Jahre gebraucht, um Jonahs Gefängnis zu schreiben, und weitere zwanzig, um es zu veröffentlichen. Weil er darin einige Aborigine-Traditionen beschrieb, die sein Clan für heilig hielt, hatten die meisten Verwandten und Freunde mit ihm gebrochen. Er hatte mir mal erklärt â und erklärte jetzt der zu Tränen gerührten, von Ehrfurcht ergriffenen Margot â, dass er die Geheimnisse seines Volkes nur deshalb preisgebe, weil das Volk vom Aussterben bedroht sei. Er wolle, dass seine Traditionen weiterleben.
Jonahs Gefängnis war von einem unabhängigen Verlag mit einer Auflage von nur hundert Exemplaren veröffentlicht worden. Man hatte keine Werbung dafür gemacht. Kits Traum davon, der Welt von den Werten und dem Glauben seines Volkes zu erzählen, hatte sich zerschlagen. Aber verbittert war er deswegen nicht. Er war sich ganz sicher, dass seine Ahnen ihm helfen würden.
Margot war sich nur zweier Dinge sicher:
1. Dass sein Buch in mehrfacher Hinsicht faszinierend war.
2. Dass nur sie ihm helfen konnte.
Daher beschloss sie, von dem Geld, das von Hugo Benets Tantiemenscheck noch übrig war, weitere zweitausend Exemplare von Kits Buch drucken zu lassen sowie eine kleine Werbekampagne inklusive einer Buchvorstellungsveranstaltung in der Bibliothek von Surry Hills zu finanzieren. Und da konnte ich mich dann endlich mal nützlich machen. Bei ebendieser Veranstaltung erkannte ich nämlich den Journalisten Jimmy Farrell wieder, der Kits Buch als Aufhänger nahm, seine Geschichte zu erzählen: von den Opfern, die er gebracht hatte, und davon, dass nur ein halbes Jahr, nachdem der oberste australische Gerichtshof den Terra-Nullius-Status aufgehoben und damit die Kontroverse rund um die Besitzverhältnisse von Grund und Boden beendet hatte, ein eingeborener Australier über die Themen »Landbesitz« und »Identität« schrieb.
Geh mal zu dem hin und sprich mit ihm, sagte ich Margot und schob sie sanft in Jimmys Richtung.
Innerhalb weniger Monate verkaufte sich Kits Buch über zehntausend Mal â und er und Margot begannen eine Affäre. Im Dezember begab Kit
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