Tagebuch eines Engels
auf das fliegende Objekt traf, veränderte es dessen Flugrichtung und lieà es zu Boden stürzen. Doch was oder wer auch immer das Ding nach mir geworfen hatte, kam jetzt mit so schweren Schritten auf mich zu, dass der gesamte Schuppen vibrierte.
Ich versuchte, noch einen Lichtstrahl auszusenden, aber es gelang mir nicht. Ich spürte, wie dieses Etwas auf mich zuraste, groà wie ein Elefant. Margot schrie. Ich stand vor ihr, schloss die Augen und konzentrierte mich irrsinnig. Plötzlich schoss mit einer solchen Wucht Licht aus meiner Hand, dass ich ins Taumeln geriet. Es machte laut »puff«, und damit löste sich die Dunkelheit, die sich beinahe auf uns gelegt hätte, in Rauch auf.
Die Tür flog auf, Sonnenlicht durchflutete das Innere des Schuppens. Gerade eben hatte es noch geregnet. Jetzt war der Himmel strahlend blau, und die Sonne schien so grell, dass sie die Dunkelheit wie ein weiÃes Messer durchschnitt.
Margot rannte weinend zum Haus. Ich blieb stehen, wo ich war, während Kate verdutzt auf dem Boden lag. Und neben ihr eine in tausend Stücke zerborstene Porzellanlampe.
»Ich würde dir empfehlen, dir ein neues Spiel zu suchen«, sagte ich zu Kate, bevor ich Margot ins Haus folgte.
Kate rührte das Ouija-Brett nicht wieder an.
â 7 â
EIN SINNESWANDEL
Als Margot in das Alter kam, in dem sie die Dinge und Zusammenhänge allmählich zu begreifen begann, überschüttete ich sie mit guten Ratschlägen. Wenn du sechzehn bist, wirst du einem Typen namens Seth begegnen. Du darfst dich auf keinen Fall in ihn verlieben! Warum? Vertrau mir einfach. Okay. In New York dagegen darfst du dich gerne verlieben, und das wirst du auch. Wo ist New York? In Amerika. Ich freue mich sehr auf deine Zeit dort. Sind die Beatles da? Sozusagen. Aber was noch viel wichtiger ist: In New York begegnest du einer Frau namens Sonya, wenn dir dein Hund ausbüxt und in einem Feinkostladen auf der Fifth Avenue Chaos anrichtet. Um diese Sonya machst du besser einen groÃen Bogen. Warum? Weil sie dir deinen Mann wegnimmt.
Als Margot etwa dreieinhalb Jahre alt war, kurz vor Weihnachten, fing sie an, mich vollkommen zu ignorieren. Wochenlang sah sie mich nicht einmal mehr an. Es war, als lege sich der Wind, als würden die Steinchen ihres Bewusstseins einen festen Platz einnehmen und meinen Einfluss nicht mehr eindringen lassen.
Mir wurde angst und bange. Ich kam mir vor, als hätte man mich ausgesetzt, und fühlte mich klein und allein. Ich glaube, da fing ich an, meinen »Einsatz« etwas ernster zu nehmen. Und ich glaube, da begriff ich endlich die traurige Wahrheit: Ich war wirklich tot. Ich war wirklich ein Schutzengel.
Ich entwickelte einen regelrechten Spleen mit meinem Spiegelbild (ja, ich hatte immer noch eins â ich bin ein Engel, kein Vampir). Immer wieder betrachtete ich das Wasser, das mir aus den Schultern nahtlos durch mein bedauernswert formloses weiÃes Kleid floss. Ich sah aus wie um die zwanzig, nur meine Haare wichen ab â sie waren nicht gebleicht. Natürlich karamellbraun, strichen sie mir in Locken über die Schultern. Ich hatte Brüste, Genitalien, selbst meine widerlichen halbmondförmigen Zehen. Ich hatte Haare auf den Beinen. Und mein ganzer Körper leuchtete ein wenig, als würde in meinen Adern kein Blut flieÃen, sondern winzige LED-Lämpchen.
Von Tag zu Tag sah Margot mehr wie eine weibliche Version von Theo aus. Ich verlor mich in der Vergangenheit. Ich war so damit beschäftigt, zu betrauern, was ich verloren, was ich weggeworfen hatte, und dass ich nie mal etwas richtig machen konnte, und vergaà darüber fast, in welcher Mission ich eigentlich hier war. Ich sollte auf Margot aufpassen, ich sollte mich um sie kümmern. Kinder werden so schnell groÃ. Als ich von meinem ersten kleinen Selbstmitleidstrip erwachte, war sie mehrere Zentimeter gewachsen, hatte eine neue Frisur und war vollkommen und unwiderruflich Karina-fiziert. Sie war gnadenlos eingebildet, aber das war nur gut so. Sie lernte, Kate Paroli zu bieten und den Schwächen ihres Herzens kraft ihrer vorpubertären Frechheit zu widerstehen.
Und dann, eines Tages, brach sie im Park zusammen. Ich lag unter der Schaukel und kitzelte sie in den Kniekehlen, während sie mit flatterndem Rock über mir hin und her schwang â wie das Pendel der Uhr des Lebens. Eben schwang sie noch nach vorn und kicherte, dann schwang sie zurück und
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