Tagebuch eines Engels
abzufangen, befand mich aber unversehens auf der anderen Seite einer Mauer. Von dort konnte ich jeden Fausthieb hören, jeden FuÃtritt. Ich schrie auf der einen Seite der Mauer und Margot auf der anderen. Mit Fäusten hämmerte ich gegen die kalten Steine.
Ich sah mich kurz um und stellte fest, dass ich mich in Seths Garten befand, mitten im Unkraut. Die Sonne ging unter.
Dann spürte ich einen Arm um meinen Rücken. Ich sah auf. Solomon, Seths Schutzengel. Wir waren uns vorher einmal ganz kurz begegnet. Er streckte mir die Hand entgegen, wollte mich trösten.
»Lass mich bloà in Ruhe«, schnauzte ich ihn an. »Oder hilf mir, wieder da reinzukommen.«
Er schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht«, sagte er. »Das weiÃt du doch.«
»Warum sind wir hier drauÃen?«, schrie ich.
Solomon sah mich durchdringend an. »Manche Dinge sind nun mal vorbestimmt«, flüsterte er. »Und andere nicht. Dort, wo Menschen Entscheidungen treffen, sind wir machtlos.« Ein weiterer Schrei aus dem Haus, dann eine Tür, die ins Schloss fällt. Stille. Solomon sah zur Hausmauer. »Du kannst jetzt wieder reingehen. Seth ist weg«, sagte er sanft, und ich marschierte auf die Mauer zu und war mit einem Mal wieder mit Margot im Schlafzimmer.
Sie lag auf dem Boden und schnappte nach Luft. Ihre Haare waren ganz durcheinander, tränennass und blutverklebt. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Unterleib, so heftig, dass sie sich abrupt aufsetzte und vor Schmerzen schrie. Sie rang nach Luft. »Langsam und tief atmen, Margot. Langsam und tief«, redete ich ihr zu, doch meine Stimme brach, da ich selbst weinen musste. Panisch sah sie sich um, da sie fürchtete, Seth könne zurückkommen. Gleichzeitig sehnte sie sich danach, von ihm getröstet zu werden.
Ich beugte mich zu ihr herunter, um zu reparieren, was nicht zu reparieren war. Der Diamant war weg. Das rote Kissen löste sich auf und verteilte seine dicken roten Fäden auf dem FuÃboden.
Ich ging los, um Hilfe zu holen, und konnte eine Nachbarin dazu bewegen, bei Seth anzuklopfen. Als keiner aufmachte, ging sie ins Haus, um sich zu vergewissern, dass mit Seth alles in Ordnung war. Als sie Margot auf dem Boden fand, rief sie einen Krankenwagen.
Margot hatte Schwierigkeiten, damit fertigzuwerden. Sie beschloss, wegzuziehen â so weit weg von Seth, wie es nur irgend ging. Sie schubste Grahams Tischglobus an, schloss die Augen und streckte den Zeigefinger aus. Ich war es, die den Globus anhielt und ihren Finger auf den Ort zeigen lieÃ, der mir der beste schien:
New York. Die Stadt, die niemals schläft.
â 12 â
DAS DUNKLER WERDENDE MEER
Ein Hinweis vorab: Wenn man ein Schutzengel wird (und das wird nicht jeder), erschlieÃt sich einem eine völlig neue Dimension des Flugreisens. Business und First Class sind ein Dreck gegen die Angel Class . Dort sitzt man auf der Flugzeugnase oder, wenn man sich gerne ein bisschen strecken möchte, auf der Tragfläche. Und ich rede nicht vom Panoramablick, den Wolkenformationen und Sonnenuntergängen. Auf unserem Weg über Grönland und Neuschottland sah ich viel mehr als nur Wolken. Ich sah Jupiters Engel, so groÃ, dass seine Flügel â übrigens aus Wind, nicht aus Wasser â jenen gigantischen Planeten umspannten und dabei ständig Meteore abwehrten, die auf dem Weg zur Erde waren. Ein Blick nach unten, und ich sah Stratosphären von Engeln, die über der Erde schwebten, Gebete erhörten und ab und zu einschritten, um Schutzengeln zu helfen. Ich sah Gebetspfade und Entscheidungsbahnen sich zu riesigen SchnellstraÃen winden. Ich sah Engel in Städten und Wüsten, die wie die nächtlichen Abbilder der Erde aus der Mondperspektive schienen: Die kopfstehende Birne Afrikas, erleuchtet von den Kerzen in Kapstadt und Johannesburg. Der Hundekopf Australiens, mit goldenen Flammen gesäumt. Die Hexe auf ihrem Besen â Irland â, die aus Dublin, Cork, Derry und Belfast den Glanz neuer Pennystücke sandte. Das alles waren keine Lichter der GroÃstadt, sondern die Lichter der Engel.
Als Margot nach New York flog, wollte sie zunächst den Sommer über dort bleiben. Der Schaden, den Seth angerichtet hatte, beschränkte sich nicht auf den Verlust des Babys, nicht auf die Demütigung, die Margot empfand, als die Schwestern im Krankenhaus von noch so einem schwangeren Flittchen tuschelten und sich
Weitere Kostenlose Bücher