Tagebuch eines Engels
seiner Vergangenheit und Zukunft zu sehen. Ich brauchte dringend Hinweise. Aber das Einzige, was ich sah, waren die Gesichter seiner Studenten und die Figur des Mannes aus Holz, der ganz alleine durch das Land der Puppen tanzte â ein Gedicht, das noch nicht mehr war als ein jambischer Embryo.
Und eine blitzartige Einblendung von Margot im Taxi.
Ich ging einen Schritt auf ihn zu. Er lächelte, als gäbe er sich gerade einer ganz persönlichen Sehnsucht hin, und schrieb dann weiter. Das Ganze wiederholte sich. Ãber seinem Kopf schwebte ein Porträt von Margot, wie sie im Taxi sitzt und lächelt: im Winter keimende Samen.
Ich sah zu Margot und Xiao Chen hinüber, den freiwilligen Geiseln der blauäugigen Kerle, und lieà mich dann neben Toby auf die Bank sinken.
»Mein Sohn ist kein Mörder.« Gaia stand vor mir, silbrig wie eine frisch geputzte Klinge.
»Und wer hat Margot dann umgebracht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, weià ich nicht. Aber Toby warâs nicht.«
Damit ging sie. Eine Bö durchfuhr den Park, blies den Rock eines Mädchens hoch und lieà das trockene Laub applaudieren. Gaia wehte über Toby und mich hinweg, ohne ihn aufmerken zu lassen.
Ich gestattete mir, ihn genau zu betrachten, die erdfarbene Palette seiner Aura wahrzunehmen. Ich atmete tief ein, als ich bemerkte, in welch schlechtem Zustand seine Nieren und wie zerbrechlich seine Knochen waren. Ich studierte sein ruhiges, feminines Gesicht, die goldenen, eindringlichen Augen. Ich sah, wie das weiÃe Licht seiner Seele sich zusammenzog und wieder ausdehnte, während er auf eine Idee kam, die in seinen tiefsten Sehnsüchten nachhallte, und ich sah jene Sehnsüchte aus seinem Innersten auftauchen wie kleine Leinwände, auf denen Projektionen der Hoffnung zu sehen waren: geliebt zu werden. Bücher zu schreiben, die die Welt bewegten, die Mitgefühl auslösten und Veränderungen hervorriefen. Eine feste Stelle an der NYU zu bekommen. Vater zu werden, ein Kind mit der richtigen Frau zu haben.
Die Typen trollten sich, und Margot und Xiao Chen folgten ihnen. Es würde noch einige Jahre dauern, bis Margot und Toby sich richtig kennenlernten. Ich beugte mich zu ihm hinunter und küsste ihn ganz sanft auf die Wange. Er sah mich direkt an, und was er dann dachte, glich einer dunklen Wolke, die sich in einen Platzregen verwandelte. Mein Herz zersprang in tausend reumütige Stücke. Ich war wieder drauf und dran, mich in ihn zu verlieben.
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EIN HUND UND EIN FEINKOSTLADEN
Margot dagegen verliebte sich erst mal in das Eishockeyteam der NYU. Sie überschüttete den Trainer mit ihrer Liebe, bis dessen Frau dahinterkam, und dann verteilte sie ihre Liebe unter den männlichen Mitgliedern des Karateclubs. Sie hungerte derartig nach Liebe, dass sie die halbe Fakultät verschlang. Dann war Jason dran. Jason war Xiao Chens fester Freund. Aber Xiao Chen hatte selbst eine ganze Reihe von Blondinen ihrer Freunde beraubt, bevor sie nach und nach ihre Siebensachen in Jasons Wohnung deponierte. Sie hatte also kein Recht, so überrascht zu tun. Für Margot war das ein klassischer Fall von einem Schüler, der seinen Meister übertraf. Nun denn, Margots und Xiao Chens Freundschaft endete nicht wenig spektakulär.
Ich für meinen Teil verachtete Margot von Tag zu Tag mehr. Margot, sagte ich ihr immer wieder. Wie ich dich hasse. Lass es mich aufzählen:
1. Ich hasse deinen aufgesetzten amerikanischen Akzent.
2. Ich hasse deinen Pseudo-Feminismus und deine religiöse Hingabe zur Hurerei.
3. Ich hasse deine Lügen Papa gegenüber. Wenn er erfährt, dass du durch die Prüfungen fällst, wird ihn das im Innersten treffen.
4. Ich hasse deine tiefe Raucherstimme. Und zwar, weil sie meine ständig übertönt.
5. Am allermeisten, Margot, hasse ich, dass ich mal du war.
Dann kamen die Prüfungen. Ich trommelte eine Gruppe von Engeln zusammen, und wir taten unser Bestes, um unsere Schützlinge dazu zu bewegen, sich anzustrengen und sich selbst den Weg in eine bessere Zukunft zu ebnen. Leider hatte Bob mehr oder weniger live mitbekommen, dass (und zu welchem Zweck) Margot Hinz und Kunz in die Wohnung über dem Buchladen abgeschleppt hatte. Also dachte er sich, er hätte vielleicht auch eine Schnitte. Am Abend vor Margots erster Prüfung strich er darum seinen Afro-Wuschelkopf glatt, stopfte sein bestes T-Shirt in seine
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