Tagebuch eines Engels
setzte mich in einem zugigen Raum mit hohen Decken und einer Tafel über dem Marmorkamin zögernd neben sie. Die anderen Studenten des Kurses â fünfzehn an der Zahl â waren leise, äuÃerst wohlerzogen und konnten es kaum abwarten, den noch nicht aufgetauchten Professor mit ihren Ansichten zum Poststrukturalismus zu überschütten. Eine der Studentinnen, eine kahl geschorene chinesische Erbin namens Xiao Chen, deren FüÃe in goldenen Satin-Beinwärmern und hohen DocMartins steckten und deren Oberkörper sich in einer ledernen, mit Metallstacheln übersäten Motorradjacke verbarg, sah zu Margot auf und lächelte sie an. Als ich Xiao Chen erblickte, dachte ich sofort an Tequila und einen StraÃenräuber, der halb tot in der Gosse lag. Ach, ja, Xiao Chen. Von ihr lernte ich die Kunst des Stehlens.
Die Bäume wurden rot, dann weiÃ, dann nackt wie Heugabeln, und Margot und Xiao Chen tauchten ein in eine Welt aus Papier, für die gewiss mehrere Wälder hatten herhalten müssen.
Jahre nach unserem ersten Date fand ich heraus, dass Toby an der NYU gearbeitet hatte, während ich dort studierte. Wir sind uns in der Zeit nie über den Weg gelaufen. Man hatte ihn damit beauftragt, Frau Professor Godivala, die in Mutterschutz ging, zu vertreten. Tobys Kurs »Shakespeare und Freud« war nur wenige Stunden nachdem dessen Ankündigung am Schwarzen Brett ausgehängt worden war, voll belegt. Margot stand mit einem Stift bewaffnet davor und wollte sich unbedingt in die Liste eintragen. Ich sah den Namen des Seminarleiters â Mr. Tobias Poslusny â und fing an, das Lied der Seelen zu schmettern. Damit schreckte ich die anderen Engel auf, die sich unter den zum Schwarzen Brett drängenden Haufen Studenten gemischt hatten. Margot zögerte, trug sich dann aber doch ein. Dankenswerterweise tauchte Xiao Chen auf und rettete mich.
»Du gehst nicht zu dem Seminar.«
»Nein, Xiao Chen. Darum trage ich mich ja auch in die Liste ein. Du etwa nicht?«
Xiao Chen schüttelte den Kopf. »Das findet montags morgens um halb neun statt. Und auÃerdem kannst du Shakespeare nicht ausstehen. Komm schon, lass uns zusammen zu dem Modernismus-Seminar gehen.«
Margot zögerte.
»Ich gebe einen aus, wenn du Ja sagst«, lockte Xiao Chen, riss Margot den Stift aus der Hand, strich ihren Namen wieder durch und schob sie dann zur Liste für das Modernismus-Seminar. Margot trug sich ein, dann verdufteten sie zum Studentenwerk.
Ich folgte ihnen durch den Washington Square Park, in dessen hartem Boden Samen wie grüne Herzen reiften und sich auf die lange Reise dem Sonnenlicht entgegen vorbereiteten, und sah Toby allein auf einer Bank sitzen. Er schrieb. Margot und Xiao Chen liefen zwei Typen über den Weg, die mit ihnen flirteten und sie kichern lieÃen. Unterdessen näherte ich mich Toby.
In den Zweigen einer Weide hinter ihm saà ein Engel mit langem silbrigem Haar und einem schmalen, nüchternen Gesicht. Er strahlte so hell, dass er von Weitem aussah wie ein Wasserfall, der sonnenbeschienen aus den Zweigen stürzte. Als ich näher herankam, erkannte ich in ihm Gaia, Tobys Schutzengel und Mutter. Wir haben uns zu meinen Lebzeiten nie kennengelernt. Gaia sah mich an und nickte, zu einem Lächeln reichte es aber nicht. Ich setzte mich neben Toby. Er war vollkommen in seine Schreiberei vertieft.
»Freut mich, dich zu sehen, Toby«, sagte ich.
»Danke, gleichfalls«, entgegnete er geistesabwesend. Mitten im »gleichfalls« stockte er jedoch und sah verwirrt auf.
Ich stand abrupt auf. Toby sah sich um, kratzte sich am Kopf und schrieb dann wieder weiter. Während er schrieb, riss jenes aus Gefühlen und Gedankengängen gewebte Vlies, das häufig wie eine pulsierende Wand voller Farben, Texturen und kleiner Funken aussah, hier und da auf â nämlich dort, wo ganz schnell neue Verbindungen zwischen den unzähligen Ideen entstanden, die von jenem Vlies wie Ballons aufstiegen. Ich witterte eine Gelegenheit.
Ich musste ihn fragen.
Ich musste es wissen. Denn wenn er es war, der Margot getötet hatte, wenn mein Leben also aufgrund dieses Mannes so jäh geendet hatte, dann musste ich mir schnellstens überlegen, wie ich sie von ihm fernhalten konnte.
»Hast du Margot getötet, Toby?«
Er schrieb weiter.
Ich wiederholte die Frage etwas lauter. Gaia sah auf.
Ich strengte mich an, um neben ihm Bilder aus
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