Tagebuch eines Engels
Loyalität geprägten, von Ehekriegen versehrten Verbindung zum Vater meines Kindes, meinem Ehemann. Das Kabel, das einst so dick wie eine Ãberlandleitung zwischen uns verlief, war nun endlich zurückgeschnappt und mir ins Gesicht geschlagen. Ich saà so dicht neben ihm, dass ich die Reihe orangefarbener Sommersprossen unter seinen Augen erkennen konnte und die wunderbare Zartheit seiner Wangen (er selbst konnte die ersten Stoppeln kaum abwarten, die beweisen würden, dass er â endlich! â über einundzwanzig war). Und ich bebte vor Liebe, vor Leidenschaft, vor Hass und vor Schmerz.
Ich hatte zwar eigentlich gar keinen Atem, den ich hätte anhalten können, aber ich tat es trotzdem, versteifte mich dabei und ertrug den kostbaren Moment. Bis Toby ausstieg, noch einmal an die Scheibe klopfte und dann in die Nacht verschwand. Ich löste meine Fäuste und lachte nervös, bis ich mich einigermaÃen gefangen hatte. Ich wusste, dass sie sich wieder über den Weg laufen würden, und der Teil von mir, der ihn hasste, brüllte den anderen Teil von mir an, der gerne wollte, dass sie sich wiederbegegneten.
Und während die verschiedenen Teile in mir sich stritten, übersah ich etwas. Als ich mich das nächste Mal Margot zuwandte, streckte sie die Hand aus nach etwas, das Toby beim Aussteigen aus der Tasche gefallen sein musste. Bevor ich irgendetwas tun konnte, bevor ich Zeit hatte, mich wieder in der Gegenwart zurechtzufinden, las sie bereits.
Es war eine Kurzgeschichte, vielleicht ein Essay. Handgeschrieben. Die Schrift war klein und krakelig â die Schrift eines Intellektuellen, aber mit dicken, runden Vokalen, die von Tobys ausgeprägter Empathiefähigkeit zeugten. Seltsamerweise war das Papier eine völlig vergilbte Seite aus einer fast achtzig Jahre alten Ausgabe von Boccaccios Dekameron , auf der der ursprüngliche Text kaum noch zu lesen war.
Toby war das, was man einen ultimativen Hungerkünstler nennen würde. Er war so dünn, dass sein Kordanzug an ihm eher aussah wie ein Schlafanzug in Anzugform, und seine Hände waren immer fleckig, immer kalt. Er lebte von den Schecks, die die New York University ihm jedes Quartal schickte, und das bedeutete, dass er sich von den Resten einer Würstchenbude ernährte, die einem ehemaligen Kommilitonen gehörte, und sein Haupt auf dem Dachboden des rund um die Uhr geöffneten Cafés auf der Bleecker Street bettete. Er hätte niemals zugegeben, dass er arm war. Er labte sich an Worten, er tat sich an Poesie gütlich und fühlte sich so reich wie ein Millionär, wenn man ihm einen Füller und sauberes Schreibpapier schenkte. Er war Schriftsteller. Das Schlimmste daran war, dass er glaubte (und diesen Glauben sogar verfocht), regelrechte Armut gehöre nun einmal zum Leben eines Künstlers.
Wenn Sie sich jetzt also ein ziemlich mitgenommenes Stück Papier vorstellen können, auf dem durch Tintenkleckse und eine krakelige Künstlerschrift hindurch ein verblasstes italienisches Bühnenstück schimmert, dann haben Sie schon eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was Margot aufhob, auseinanderfaltete und las.
Der Mann aus Holz
von Toby E. Poslusny
Der Mann aus Holz war keine Marionette. Im Gegensatz zu Pinocchio war der Mann aus Holz ein richtiger Mensch, aber alle anderen um ihn herum nicht. Der Mann aus Holz fand das Leben im Land der Puppen sehr schwierig. Es gab so gut wie keine Arbeit, es sei denn, man hatte Fäden an seinen GliedmaÃen und konnte den Mund beim Reden völlig still halten. Es gab keine Häuser und keine Geschäfte, und in letzter Zeit mangelte es auch an Kirchen. Der gesamte Planet war in eine riesige Bühne verwandelt worden, auf der die Puppen sich hölzern bewegten und kämpften, und der Mann aus Holz fühlte sich zunehmend einsam. Denn der Mann aus Holz war nicht aus Holz, nur sein Herz. Genauer gesagt war sein Herz ein Baum mit vielen Ãsten, an denen aber weder Pfirsiche noch Pflaumen reiften und auf denen sich nie ein Vogel zum Gesang niederlieÃ.
Obwohl Margot nichts über den Mann wusste, der während der Fahrt siebzehn Blocks lang neben ihr gesessen hatte, befiel sie das Gefühl, einen Einblick in seine Welt bekommen zu haben. Als habe sie eine Seite aus seinem Tagebuch gelesen. Einen Liebesbrief. Die grenzenlose Einsamkeit, die aus den Worten sprach, weckte ihr Mitgefühl. In meinen Augen handelte es sich natürlich
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