Tagebuch eines Engels
die Decke zurück und knurrte mich an. Er war ein Dämon. Ich wich überrascht und verwirrt zurück.
»Hallo? Wer ist denn da?« Roses Stimme kam aus der Küche. Dann das Klicken des Gehstocks, der ihren schlurfenden Schritt durch die dunkle Wohnung begleitete. Margot näherte sich ganz langsam.
»Hi«, sagte sie erleichtert und angewidert. »Ich bin Ihre Nachbarin. Wollte nur mal Guten Tag sagen.«
Rose hob ihre Brille und sah zu Margot hinauf. Sie lächelte sie so herzlich an, dass ihre Augen zu dunklen Schlitzen in den Tiefen ihres Gesichtes mutierten. »Na, kommen Sie rein, Kindchen. Besuch ist ja ziemlich selten.«
Margot folgte ihr in die Küche. Sie sah die nackten, feuchten Wände, die dicke Staubschicht auf dem versifften Esstisch, den nackten FuÃboden. Als sie an dem alten Mann auf dem Sofa vorbeikam, schauderte sie. Sie wollte wieder gehen. Und ich auch.
Der Dämon rappelte sich auf und näherte sich mir. Ein weiÃer Fleischberg von hundertfünfzig Kilo. Stechende, finster dreinblickende Augen, nackter Oberkörper. Er baute sich über mir auf und knurrte, dann schubste er mich. »Du hast hier überhaupt nichts verloren«, bellte er. Ich platzierte meine FüÃe ganz fest auf dem Boden, behielt Margot und Rose in der Küche im Auge und sah mich suchend nach Roses Engel um. Der Dicke stürzte sich noch einmal auf mich, aber ich hob die Hand, und in ihr lag eine flammende Kanonenkugel.
»Wenn du mich noch einmal anfasst, mache ich Hackfleisch aus dir«, warnte ich ihn. Er zog die Augenbraue hoch und schnaubte. Geistreiche Repliken waren offenbar nicht seine Stärke. Er verzog das Gesicht und zeigte mit dem Finger auf mich.
»Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus«, knurrte er. Dann lieà er sich wieder aufs Sofa fallen und zog die Decke über sich. Ich stolperte durch das Zimmer, völlig perplex von dieser Konfrontation, und versuchte, dahinterzukommen, wieso es hier einen Dämon gab, aber keinen Engel.
Etwas später kam Margot mit einem Teller voller Kekse in Aluminiumfolie aus der Küche. Rose hatte den Arm um Margots Schulter gelegt und erzählte ihr die Geschichte von dem Ring an ihrem linken Zeigefinger. Sie hatte mit ihrem ältesten Sohn zu tun, der im Krieg gefallen war. Sie gingen zur Wohnungstür.
»Tut mir leid, dass ich gehen muss«, bedauerte Margot später, »ich bin mit meinem Mann im Park verabredet. Aber wir sehen uns wieder.«
»Ganz sicher«, sagte Rose und winkte zum Abschied. Reichlich verwirrt folgte ich Margot. Kein Engel? Hatte Nan nicht gesagt, dass Gott keines seiner Kinder allein lässt?
Margot besuchte Rose schon am nächsten Tag wieder. Und am Tag darauf. Und am Tag darauf. Bis sie dreimal täglich rüberging. Damals liebte ich diese Besuche. Ich genoss die muntere Bestätigung einer Frau, die dreizehn Kinder zur Welt gebracht hatte und den Geburtsvorgang und die Mutterschaft â sehr zu meiner Freude â als etwas so Schönes und Positives, ja, als ein Geschenk schilderte, dass ich beides nicht mehr fürchtete wie den Vorhof zur Hölle. Und genauso, wie ich die Besuche damals liebte, graute es mir jetzt vor dem Anblick jener schäbigen Tür, vor den Drohungen und Spötteleien vom Sofa, vor den ständigen Angriffen.
SchlieÃlich rief ich Nan. Sie hatte mich seit der Schlacht in Nevada nicht mehr besucht, und ich war davon ausgegangen, dass sich unsere Wege getrennt hatten. Aber ich vermisste sie. Und, was noch viel wichtiger war: Ich brauchte sie.
Ein paar Minuten später tauchte sie an meiner Seite auf. Ich begrüÃte sie kleinlaut.
»Es tut mir leid, Nan«, hauchte ich. »Es tut mir so furchtbar leid.«
Sie gestikulierte, als würde sie meine Entschuldigung verscheuchen. Sie wusste immer sehr genau, was sie hören wollte und was nicht.
»Ist schon gut«, sagte sie und nahm mich in den Arm. »Ist ja dein erstes Mal als Engel. Du musst noch so viel lernen.«
Ich erklärte ihr die Sache mit Roses Dämon.
»Warum wurde Rose kein Engel zugeteilt?«, fragte ich. »Und wer ist das Walross auf Roses Sofa?«
Ãberrascht sah sie mich an. Wirklich überrascht. »Aber ⦠hast du denn nicht ⦠Margot ist Roses Engel.«
Wie bitte?
Sie lachte, doch als sie meinen Blick sah, wurde sie wieder ernst. »Du weiÃt doch, dass ein Mensch mehrere Schutzengel haben
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