Tagebuch eines Engels
Stimme aus dem Zimmer links von mir.
Ruth!
Eine Sekunde später knallte ich auf den Boden auf. Mein Gesicht blutete und brannte â keine Ahnung, was mich da getroffen hatte â, und meine Lungen fühlten sich so zusammengestaucht an, dass ich kaum atmen konnte. Ich keuchte und rappelte mich auf. Direkt vor mir standen Ram, Luciana und Pui. Dicht gedrängt beieinander, sahen sie zunächst aus wie drei Schattensäulen. Ram hielt einen mit Nägeln und Eisenspitzen versehenen Flegel am Ende einer Kette.
Mir blieb nur eins: weglaufen.
Ram holte aus und wollte mir noch eins mit dem Flegel verpassen. Ich stürzte ins Wohnzimmer, und als er mich einholte, hob ich die Hände zu den Schläfen und wappnete mich gegen den nächsten Schlag auf meinen Kopf. Aus dem Augenwinkel sah ich Nan, die den Arm ausstreckte und den Schlag abfing. Während sie das tat, bemerkte ich zwei Arme, die sich unter den Achseln um meinen Brustkorb schoben und mich hochhielten. Luciana hielt mich, und Pui rammte mir ihre Hand in die Brust. Es fühlte sich an, als würde ich entzweigeschnitten. Ich schrie. Ich hörte Theos Stimme aus seinem Zimmer. James erschien neben mir und wollte in Theos Zimmer gehen. Aber Luciana und Pui hatten ihn gesehen. »Untersteht euch!«, schrie ich. Pui lächelte mich direkt an, lehnte sich ein wenig nach vorne und spazierte in mich herein, als würde er einen Schrank betreten.
Ich glaube, in dem Moment sah ich die Hölle. Pui nahm mich dorthin mit. Zerrte mich aus meinem Körper heraus und durch einen düsteren Schacht in eine Welt, die so furchtbar war, dass ich ihre Grausamkeit förmlich in den Knochen spürte.
Und dann wurde es dunkel.
Ich hörte dumpfe Schläge, Gebrüll und Geschrei. Aber ganz weit weg, so, als würde ich an einen anderen Ort und in eine andere Zeit gebracht.
Als ich aufwachte, lag ich auf dem FuÃboden eines völlig weiÃen Raumes, nackt. Ich hatte Angst. War es das jetzt? War ich in der Hölle?
Ich zog die Knie an die Brust und bibberte. »Nan?«, rief ich. Dann: »Theo? Toby?« Hinter mir hörte ich Schritte.
Ich drehte mich um. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass die schimmernde Gestalt vor mir Nan war. Ihr Gesicht strahlte wie die Mittagssonne, und ihre Flügel waren wie breite rote Lichtbänder ausgestreckt. Ihr Kleid war nicht mehr weià und auch nicht stofflich. Es wirkte, als habe sie die Oberfläche eines stillen Sees, in dem sich der Sonnenuntergang spiegelt, angehoben und sich übergezogen.
»Und jetzt?« Ich zitterte so sehr, dass auch meine Stimme merkwürdig ratterte. »Komme ich jetzt in die Hölle?«
»Ich glaube kaum«, entgegnete Nan ruhig. »Ich habe dich gerade davor bewahrt, ihr neuester Gast zu werden.«
»Aber ich komme in die Hölle, oder? Irgendwann mal?«
»Gott allein entscheidet, welche Folgen deine Entscheidungen haben werden.«
Das war ein schwacher Trost. Ich wusste, dass Nan mich nicht anlügen würde. Aber ich musste den Tatsachen ins Auge sehen. Nan hatte mich nicht vor der Hölle bewahrt. Jedenfalls nicht für immer. Sie hatte lediglich meine Reise dorthin hinausgezögert.
Ich stand auf. Streckte die Hand aus und berührte ihr Kleid. »Warum hast du dich verändert?«
»Wir alle verändern uns«, sagte sie nach einer ganzen Weile. »Genau wie du dich von einem Säugling zu einem Erwachsenen verändert hast, als du noch gelebt hast. Als ich dich vor der Hölle bewahrte, wurde ich zu einem Erzengel.«
»Warum?«
»Jeder Typ Engel hat im Dienste Gottes eine ganz bestimmte Rolle. Einige von uns werden zu Mächten, andere zu Tugenden. Einige wenige werden zu Cherubim, die Menschen beschützen und ihnen helfen, Gott zu finden. Und noch weniger werden zu Seraphim.«
»Und die wenigstens landen in der Hölle, was?«
Ein flüchtiges Lächeln. »Hier«, sagte sie, und ich musste mir schützend die Hand vor die Augen halten, als ich zu ihrer erhobenen Hand aufsah. Sie reichte mir ein weiÃes Kleid.
»Was ist mit dem blauen?«
»Das kann man nicht mehr anziehen. Das hier ist alles, was davon übrig geblieben ist.« Und damit reichte sie mir einen kleinen blauen Edelstein an einer goldenen Kette. Ich schlüpfte in das weiÃe Kleid und legte mir dann die Kette um.
»Und jetzt?«, fragte ich. »Habe ich Theos Leben verändert?«
Sie
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