Tagebuch Eines Vampirs 01. Im Zwielicht
erwachte das Reh aus seiner Trance. Er fühlte, wie seine Muskeln zitterten, während es versuchte, wieder auf die Füße zu kommen.
Dann lauf, dachte er, setzte sich auf die Fersen zurück und gab das Tier frei. Mit einem Ruck sprang es auf und rannte davon.
Er hatte genug gehabt, säuberte sich den Mund und fühlte, wie sich seine scharfen Eckzähne zurückzogen und wieder stumpf wurden. Sie waren jetzt fast schmerzhaft empfindsam, wie immer, wenn er länger seinen Hunger gestillt hatte. Es wurde für ihn immer schwieriger, zu erkennen, wann es reichte. Seit dem letzten Mal bei der Kirchenruine hatte er keine Schwindelanfälle mehr gehabt. Aber er lebte in ständiger Angst, daß sie zurückkommen könnten. Und eine weitere, beklemmende Furcht beherrschte ihn. Nämlich, daß er eines Tages verwirrt zu sich kommen und Elenas schlaffen Körper in seinen Armen halten würde. Die frischen, roten Male seiner Zähne auf ihrem Hals... ihr Herz für immer still. Das war es, was die Zukunft für ihn bereithielt. Diese Gier nach Blut war ihm auch jetzt noch ein Geheimnis. Obwohl er seit Jahrhunderten jeden Tag damit gelebt hatte, verstand er es nicht. Als Mensch hätte er die Vorstellung verabscheut, frisches, warmes Blut von einem atmenden Wesen zu trinken.
Das heißt, wenn ihm jemand den Vorgang wortreich erklärt hätte. Aber in jener Nacht waren keine Worte benutzt worden.
In der Nacht, in der Katherine ihn verwandelt hatte.
Auch nach all den Jahren war die Erinnerung noch ganz deutlich. Er hatte geschlafen, als sie leise wie ein Geist in sein Zimmer gekommen war. Er hatte allein geschlafen... Sie trug nur ein dünnes Leinenhemd, als sie zu ihm kam. Es war die Nacht vor dem Tag, an dem sie ihre Wahl treffen wollte. Und sie war zu ihm gekommen.
Eine weiße Hand hatte die Vorhänge seines Bettes geöffnet, und Stefan war erschrocken aus dem Schlaf hochgefahren. Als er sie sah, das blonde Haar, das offen über ihre Schultern fiel, und ihre blauen Augen, halb in den Schatten verborgen, fehlten ihm vor Erstaunen die Worte. Und vor Liebe. Er hatte noch nie in seinem Leben etwas so Schönes gesehen. Zitternd versuchte er zu sprechen, aber sie legte ihm sanft zwei kühle Finger auf die Lippen.
„Still“, flüsterte sie, und die Matratze senkte sich unter dem neuen Gewicht, als sie sich neben ihn legte. Sein Gesicht brannte. Sein Herz klopfte wie wild vor Verlegenheit und Erregung. Es war noch nie zuvor eine Frau in seinem Bett gewesen. Und das war Katherine, die wunderschöne Katherine, die er mehr als seine Seele liebte. Und weil er sie so liebte, unternahm er eine gewaltige Anstrengung. Als sie unter die Laken schlüpfte und sich so nah an ihn preßte, daß er das kühle Leinen ihres Hemds auf seiner heißen Haut spüren konnte, begann er zu reden. „Katherine“, sagte er mühsam beherrscht. „Wir... ich kann warten. Bis wir in der Kirche getraut worden sind. Ich werde Vater bitten, daß für nächste Woche schon alles vorbereitet wird. Es... es wird nicht so lange...“ „Still“, flüsterte sie, und er fühlte wieder die Kühle auf seiner Haut. Er konnte nicht anders und zog sie in seine Arme.
„Was wir jetzt machen, hat nichts damit zu tun“, sagte sie und streichelte seinen Hals. Stefan verstand. Und fühlte kurz Angst, die jedoch verschwand, als ihre Finger weiter seine Haut liebkosten. Er wollte es, wollte alles, was ihn mit Katherine verbinden würde. „Leg dich zurück, Liebster“, befahl sie sanft.
Liebster. Das Wort machte ihn so unendlich froh, während er den Kopf auf das Kissen sinken ließ und das Kinn zurückbog.
Sein Hals war entblößt. Seine Furcht war verschwunden und hatte einem wilden Glücksgefühl Platz gemacht. Er fühlte, wie ihr Haar sacht über seine Brust strich, und versuchte, ganz ruhig zu werden. Dann spürte er den Hauch ihres Atems auf seinem Hals, ihre Lippen und... ihre Zähne. Der Schmerz war stechend, aber Stefan zwang sich, ganz still zu liegen, nur an Katherine zu denken und an das, was er ihr geben wollte. Fast gleichzeitig ließ der Schmerz nach, und Stefan spürte, wie das Blut aus seinem Körper gesaugt wurde. Es war nicht so schrecklich, wie er es sich vorgestellt hatte. Mehr wie ein Gefühl des Gebens, der Hingabe. Ihr Geist schien sich zu vermischen, eins zu werden. Er konnte Katherines übermächtige Freude fühlen und gleichzeitig seine eigene. Die Freude des Nehmens und Gebens. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verwischte. Er konnte nicht mehr klar
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