Tagebuch Eines Vampirs 01. Im Zwielicht
nehme an, Sie haben uns ein paar neue Erkenntnisse aus Ihrem unendlichen Schatz an Wissen mitzuteilen. Oder wollen Sie mir ein blaues Auge verpassen?“ Er musterte Stefan, der cool und lässig in seinem perfekt sitzenden Smoking dastand, und Elena ging plötzlich ein Licht auf. Tanner ist eigentlich nicht viel älter als wir, dachte sie. Er sah älter aus, weil er weniger Haare hatte, aber sicher war er erst Mitte Zwanzig. Sie erinnerte sich daran, wie unwohl er sich auf dem Schulball in seinem billigen Anzug gefühlt hatte. Sicher hatte ihm auch als Schüler so etwas nie Spaß gemacht. Zum ersten Mal fühlte sie so etwas wie Sympathie für ihn. Vielleicht dachte Stefan ebenso, denn obwohl er an den kleinen Mann herantrat und ihm gerade ins Gesicht blickte, war seine Stimme ganz ruhig.
„Nein, das möchte ich nicht. Ich finde, das Ganze ist etwas aus den Fugen geraten. Warum tun wir nicht folgendes...“ Elena konnte den Rest nicht verstehen, aber Stefans Stimme war beruhigend, und Mr. Tanner schien ihm tatsächlich zuzuhören.
Sie schaute auf die Menge, die sich hinter ihr versammelt hatte: vier oder fünf Ghouls, der Werwolf, ein Gorilla und ein Buckliger. „Okay, die Show ist vorbei, alles ist unter Kontrolle“, verkündete sie, und die Zuschauer zerstreuten sich. Stefan hatte sich der Sache angenommen. Sie wußte zwar nicht, wie, denn sie konnte nur seinen Hinterkopf sehen. Seinen Hinterkopf... Für einen Moment entstand ein Bild vor ihrem geistigen Auge. Es war an seinem ersten Schultag gewesen.
Stefan hatte im Büro mit Mrs. Clarke geredet, und die hatte ganz merkwürdig reagiert. Als Elena Mr. Tanner ansah, hatte er den gleichen, leicht benommenen Gesichtsausdruck. Ein ungutes Gefühl überlief sie. „Komm“, sagte sie zu Bonnie.
„Gehen wir mal nach vorn.“ Sie nahmen die Abkürzung durch den Alien-Landeplatzraum und den der lebenden Toten in den vorderen Teil der Halle. Hier war der Eingang, wo die Besucher von einem Werwolf begrüßt werden sollten. Der Werwolf hatte seinen Kopf abgenommen und unterhielt sich mit ein paar Mumien und einer ägyptischen Prinzessin. Elena mußte zugeben, daß Caroline als Kleopatra umwerfend wirkte. Der Umriß ihres gebräunten Körpers war durch das dünne Leinenhemd, das sie trug, klar zu erkennen. Man konnte es Matt, dem Werwolf, kaum übel nehmen, daß seine Blicke von ihrem Gesicht nach unten schweiften. „Wie läuft's hier?“ fragte Elena gespielt fröhlich. Matt zuckte wie ertappt leicht zusammen, wandte sich dann zu ihr und Bonnie um. Seit dem Schulball hatte Elena ihn kaum gesehen, und sie wußte, daß er sich auch von Stefan fernhielt. Ihretwegen. Obwohl sie Matt deswegen kaum einen Vorwurf machen konnte, war ihr klar, wie weh das Stefan tat. „Alles okay.“ Matt fühlte sich sichtlich unwohl. „Wenn Stefan mit Tanner fertig ist, werde ich ihn zu dir schicken. Er kann dir helfen, die Leute zu begrüßen“, sagte Elena. Matt zuckte gleichgültig mit den Schultern. Dann fragte er: „Was hat er mit Tanner zu tun?“ Elena sah ihn überrascht an. Sie hätte geschworen, daß er noch vor ein paar Minuten im Druidenraum gewesen war und alles mitbekommen hatte. Sie erklärte es ihm. Draußen krachte der Donner, und durch die offene Tür sah Elena einen Blitz über den Himmel zucken. Ein weiterer, heftiger Donnerschlag folgte Sekunden später.
Hoffentlich fängt's nicht auch noch an zu regnen“, murmelte Bonnie. „Ja.“ Während Elena mit Matt sprach, hatte Caroline schweigend dabeigestanden. „Wäre doch schade, wenn niemand kommen würde.“ Elena musterte sie scharf und erkannte unter dem Schlangenkopfschmuck den offenen Haß in Carolines Katzenaugen. „Caroline“, begann sie impulsiv.
„Sollen wir nicht damit aufhören? Warum vergessen wir nicht alles und fangen von vorne an?“ Caroline verengte die Augen.
Ihr Mund verzog sich, während sie auf Elena zutrat. „Ich werde niemals vergessen“, zischte sie und schritt aus dem Zimmer.
Schweigen herrschte. Bonnie und Matt schauten zu Boden.
Elena machte einen Schritt durch die offene Tür, um die kühle Nachtluft auf ihren heißen Wangen zu spüren. Draußen sah sie den Sportplatz und die im Wind peitschenden Zweige der Eichen dahinter. Wieder überkam sie eine merkwürdige Vorahnung. Heute ist die Nacht der Nächte, dachte sie. Die Nacht, in der es geschieht. Aber was „es“ sein sollte, davon hatte sie keine Ahnung. Eine Stimme aus dem Lautsprecher hallte durch die umgewandelte Turnhalle.
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