Tagebuch Eines Vampirs 01. Im Zwielicht
wie er reumütig zugeben mußte, auch hungrig. Das Blut des Kaninchens war nicht genug gewesen.
Darüber mußte er sich später Gedanken machen. Er fand den Klassenraum für die letzte Unterrichtsstunde und setzte sich.
Sofort spürte er wieder diese starke Persönlichkeit. Sie schwebte wie ein Licht am Rand seines Unterbewußtseins.
Golden und sanft und doch voller Leben. Zum ersten Mal konnte er das Mädchen ausfindig machen, das diese Aura ausstrahlte. Es saß direkt vor ihm.
Gerade, als er daran dachte, drehte es sich um, und er sah ihr Gesicht. Er konnte gerade noch verhindern, erschrocken nach Luft zu schnappen. Katherine! Aber das konnte nicht sein.
Katherine war tot, niemand wußte das besser als er. Trotzdem war die Ähnlichkeit unheimlich. Das helle, goldene Haar, so blond, daß es zu leuchten schien. Diese weiße Haut mit dem rosigen Schimmer über den Wangenknochen, die ihn immer an Schwäne oder Alabaster erinnerte. Und die Augen... Katherines Augen waren von einer Farbe gewesen, die er noch nie zuvor gesehen hatte, dunkler als das Blau des Himmels, so leuchtend wie der blaue Edelstein in ihrem Kopfschmuck. Dieses Mädchen hatte dieselben Augen.
Und diese Augen sahen ihn jetzt lächelnd an. Er wandte schnell den Blick ab. Am allerwenigsten wollte er an Katherine denken.
Er wollte dieses Mädchen nicht anschauen, daß ihn so sehr an sie erinnerte, und er wollte ihre Aura nicht länger spüren. Er blickte auf sein Pult und schottete sein Unterbewußtsein gegen sie ab. Schließlich drehte sie sich endlich wieder langsam nach vorn. Sie war verletzt. Sogar durch die starken Barrikaden spürte er es. Es war ihm egal. Im Grunde war er sogar froh darüber. Hoffentlich läßt sie mich jetzt in Ruhe, dachte er.
Abgesehen davon hegte er keine anderen Gefühle für sie. Das redete er sich immer wieder ein, während die monotone Stimme des Lehrers ungehört an seinem Ohr vorüberging.
Aber er konnte den schwachen Duft eines Parfüms riechen -
Veilchen, dachte er. Und ihren schlanken weißen Nacken sehen, der über das Buch gebeugt war. Ihr blondes Haar fiel rechts und links daran vorbei über ihre Schultern. Ärgerlich und voller Frust spürte er das altbekannte Gefühl in seinen Zähnen. Es war mehr ein Kitzeln oder Kribbeln als ein Schmerz.
Es war ein Hunger, ein ganz spezieller Hunger, dem er nicht nachgeben würde. Der Lehrer wieselte durch das Klassenzimmer und schoß Fragen ab wie aus dem Schnellfeuergewehr. Stefan richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn. Zuerst war er erstaunt, denn obwohl keiner der Schüler die Antworten wußte, hielten die Fragen an.
Dann erkannte er, daß dies die Absicht des Mannes war. Er wollte die Schüler mit ihrem Mangel an Wissen beschämen.
Gerade im Moment hatte er ein neues Opfer gefunden, ein zierliches Mädchen mit roten Locken und einem herzförmigen Gesicht. Stefan beobachtete voller Abscheu, wie der Lehrer sie mit Fragen quälte. Sie war am Boden zerstört, als er sich abwandte und das Wort an die Klasse richtete. „Sehen Sie jetzt, was ich meine? Sie glauben, Sie sind die Größten, sind Oberstufenschüler und bereit für die Abschlußprüfung. Lassen Sie mich Ihnen eins sagen, einige von Ihnen stecken anscheinend noch in den Kinderschuhen. Wie sie hier!“ Er deutete auf das rothaarige Mädchen. „Keine Ahnung von der Französischen Revolution. Hält Marie Antoinette für einen Stummfilmstar!“ Die Schüler rund um Stefan rutschten unbehaglich in ihren Sitzen hin und her. Er konnte ihren Ärger spüren, die Demütigung und die Angst. Sie hatten alle Angst vor diesem kleinen Mann mit den Augen eines Wiesels. Sogar die kräftigen Jungs, die größer waren als er. „Nun gut.
Versuchen wir eine andere Epoche.“ Der Lehrer wandte sich wieder an dasselbe Mädchen. „Während der Renaissance...“ Er hielt inne. „Sie wissen doch, was die Renaissance ist, meine Liebe? Der Zeitabschnitt zwischen dem 13. und dem 17.
Jahrhundert, in dem Europa die großen Ideale der alten Griechen und Römer wiederentdeckte? Die Jahre, aus denen so viele von Europas größten Denkern und Künstlern hervorgingen?“ Als das Mädchen zuversichtlich nickte, fuhr er fort: „Was haben die Schüler Ihres Alters wohl in der Renaissance während der Schulzeit getan? Nun? Haben Sie eine Vorstellung? Eine kleine Ahnung?“ Das Mädchen schluckte. Mit einem schwachen Lächeln antwortete es: „Football gespielt?“
Bei dem entstehenden Gelächter verdunkelte sich das Gesicht des
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