Tagebuch Eines Vampirs 01. Im Zwielicht
ist glatt an mir vorbeigegangen, dachte sie wie benommen. Ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen. Undeutlich vernahm sie das Läuten zur ersten Stunde. Meredith zog sie am Arm.
„Was?“ „Ich sagte, hier ist dein Stundenplan. Wir haben jetzt Mathe in der zweiten Etage. Komm schon!“ Elena ließ es zu, daß Meredith sie den Flur entlang, die Treppe hoch und in das Klassenzimmer zog. Automatisch setzte sie sich auf einen leeren Platz und blickte den Lehrer an, ohne ihn wirklich zu sehen. Sie hatte sich von dem Schock noch nicht erholt. Er war einfach an ihr vorbeigegangen. Ohne auch nur einen Blick. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr so etwas das letzte Mal bei einem Jungen passiert war. Jeder riskierte zumindest mal einen Blick. Einige stießen bewundernde Pfiffe aus. Andere brachten genug Mut auf, sie anzusprechen. Und dann gab es noch die, die sie nur offen anstarrten. Und das hatte Elena immer gefallen. Was gab es schließlich Wichtigeres als Jungs?
Sie waren der Maßstab für Beliebtheit und Schönheit.
Außerdem konnten sie für alle möglichen Sachen ganz nützlich sein. Manchmal waren sie richtiggehend aufregend. Aber das dauerte meistens nicht lange. Und manchmal waren sie von Anfang an Trottel. Die meisten Jungs sind wie kleine Hunde, überlegte Elena. Ganz niedlich, aber im Grunde entbehrlich.
Nur sehr wenige konnten mehr werden, sogar richtige Freunde. Wie Matt. Oh, Matt. Letztes Jahr hatte sie gehofft, daß sie endlich gefunden hatte, wonach sie suchte. Einen Jungen, bei dem sie mehr empfinden konnte. Mehr als nur den Triumph, ihn erobert zu haben, oder den Stolz, ihre neueste Trophäe den anderen Mädchen vorzuführen. Und sie hatte Matt wirklich liebgewonnen. Aber als sie den Sommer über Zeit gehabt hatte nachzudenken, war ihr aufgegangen, daß es die Art Liebe war, die man für einen Vetter oder eine Schwester empfindet. Miss Halpern teilte die Geometriebücher aus. Elena nahm ihres mechanisch entgegen und schrieb ihren Namen hinein. Sie war immer noch in Gedanken versunken. Sie mochte Matt lieber als jeden anderen Jungen, den sie kannte.
Und deshalb mußte sie ihm sagen, daß es vorbei war. In einem Brief war ihr das nicht gelungen. Sie hatte auch jetzt noch keine Ahnung, wie sie es ihm beibringen sollte. Es lag nicht daran, daß sie Angst hatte, er würde Terror machen. Er würde es nur nicht verstehen. Wie auch? Sie verstand es ja selbst nicht. Es war, als ob sie nach etwas... anderem greifen wollte.
Immer, wenn sie dachte, es gefunden zu haben, war es nicht da. So war es bei Matt gewesen und bei allen anderen Jungs.
Und dann mußte sie wieder neu mit der Suche beginnen. Zum Glück gab es genug Auswahl. Kein Junge konnte ihr auf Dauer widerstehen, und keiner hatte sie je übersehen. Bis jetzt. Bis jetzt. Als Elena sich wieder an den schicksalhaften Moment auf dem Flur erinnerte, krampften sich ihre Finger um ihren Kugelschreiber. Sie konnte immer noch nicht glauben, daß der junge Mann einfach so an ihr vorbeigegangen war. Es läutete, und alle drängten aus dem Klassenzimmer. Doch Elena blieb in der Tür stehen. Sie biß sich auf die Lippen und musterte die Schüler auf dem Flur. Ihr Blick fiel auf eins der Mädchen, das sich auf dem Parkplatz an die Clique gehängt hatte. „Frances!
Komm mal her!“ Frances eilte eifrig herbei. Ihr unscheinbares Gesicht strahlte. „Hör mal, Frances. Erinnerst du dich an den Jungen von heute früh?“ „Der mit dem Porsche? Und dem tollen... Lederjackett? Wie könnte ich den vergessen?“ „Ich brauche seinen Stundenplan. Besorge ihn mir aus dem Büro oder kopiere sein eigenes Exemplar, wenn's sein muß. Egal, wie, mach's.“ Frances schien einen Moment sehr überrascht, dann lächelte sie und nickte. „Okay, Elena. Ich werd's versuchen. Wenn's klappt, treffen wir uns in der Pause.“ „Danke.“ Elena sah dem davoneilenden Mädchen nach.
„Weißt du, was? Du bist total verrückt.“ Meredith war wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht. „Was hat man davon, die Königin der Schule zu sein, wenn man nicht hin und wieder mal seine Macht spielen läßt?“ erwiderte Elena ruhig. „Wo muß ich jetzt hin?“ „Wirtschaftskunde. Hier, nimm deinen Stundenplan selbst. Ich muß in den Chemieunterricht.“ Wirtschaftskunde, wie der ganze Rest des Morgens, blieb für Elena nur eine nebelhafte Erinnerung. Sie hoffte, wenigstens einen weiteren Blick auf den neuen Schüler erhaschen zu können, doch er war in keiner ihrer Unterrichtsstunden.
Weitere Kostenlose Bücher