Tagebuch Eines Vampirs 04. In Der Schattenwelt
wonach er gesucht hatte. Sein Nacken prickelte, während er die Eintragungen sorgfältig las. Schließlich lehnte er sich zurück und schloß die Augen.
Er hatte recht gehabt. Es gab keinen Zweifel mehr. Und das bedeutete, er hatte auch richtiggelegen mit seiner Vermutung über das, was in Fell's Church jetzt geschah. Einen Moment lang überkamen ihn Übelkeit und eine so große Wut, daß er Lust hatte, um sich zu schlagen und jemanden zu verletzen.
Sue. Die hübsche Sue, die Elenas Freundin gewesen war, hatte sterben müssen... dafür. Für ein blutiges Ritual, eine Art obszöne Einführung in das Böse. Der Gedanke allein ließ Mordlust in ihm aufsteigen.
Doch dann wich der Zorn und machte einer festen Entschlossenheit Platz. Der Entschlossenheit, diese Vorgänge aufzuhalten und alles wieder in Ordnung zu bringen.
Ich verspreche es dir, flüsterte er Elena in Gedanken zu. Ich werde es aufhalten. Egal, was es kostet. Er schaute hoch und merkte, daß Matt ihn ansah. Elenas Tagebuch war in Matts Hand. Es hatte sich über seinem Daumen geschlossen. Matts Augen waren dunkelblau wie die Elenas. Zu dunkel, zu aufgewühlt, voller Trauer und Bitterkeit.
„Du hast es gefunden“, sagte Matt schlicht. „Und es ist schlimm.“ „Ja.“ „War nicht anders zu erwarten.“ Matt schob Elenas Tagebuch in die Vitrine zurück und stand auf. In seiner Stimme lag fast so etwas wie Befriedigung. Der Tonfall von jemandem, der gerade seine Vermutung bestätigt sieht.
„Ich hätte dir die Mühe herzukommen, ersparen können.“ Matt blickte sich in der dunklen Bibliothek um und spielte mit dem Kleingeld in seiner Tasche. Ein flüchtiger Beobachter hätte seine Haltung als ganz entspannt gedeutet, doch Matts Stimme verriet ihn. Sie war heiser vor Streß. „Du denkst an das Furchtbarste, das überhaupt möglich ist, und genau das trifft dann immer ein.“ „Matt...“ Plötzlich überfiel Stefan Besorgnis. Seit seiner Rückkehr nach Fell's Church war er zu beschäftigt gewesen, um sich Matt richtig anzusehen.
Jetzt erkannte er, daß er unverzeihlich dumm gewesen war.
Etwas war falsch, entsetzlich falsch. Matts ganzer Körper stand unter einer riesigen Anspannung, die dicht unter der Oberfläche lag. Stefan konnte die Qual erkennen, die Verzweiflung. „Matt, was ist los?“ fragte er leise. Er stand auf und trat zu ihm hin. „Ist es etwas, das ich getan habe?“
„Mir geht's gut.“ „Du zitterst.“ Das stimmte. Kleine Schauder liefen durch seine angespannten Muskeln. „Ich hab's schon gesagt. Mir geht's gut.“ Matt wandte sich ab, die Schultern wie zur Verteidigung hochgezogen. „Und, was könntest du mir schon groß antun? Außer, daß du mir die Freundin gestohlen und dann nicht verhindert hast, daß sie stirbt, meine ich natürlich.“ Der Stich traf Stefan mitten durchs Herz. Wie das Schwert, das ihn vor langer Zeit getötet hatte. Er versuchte, den Schmerz durch tiefes Atmen zu unterdrücken. Sprechen konnte er nicht. „Es tut mir leid.“ Matts Stimme war schwer. Als Stefan zu
ihm hinsah, merkte er, daß die angespannten Schultern zusammengesunken waren. „Das war gemein von mir.“ „Es ist die Wahrheit.“ Stefan wartete einen Moment und fügte dann ruhig hinzu: „Aber das ist nicht das ganze Problem, oder?“
Matt schwieg. Er starrte auf den Boden und schob etwas Unsichtbares mit der Schuhspitze hin und her. Gerade, als Stefan aufgeben wollte, stellte er eine Frage: „Wie ist die Welt wirklich?“
„Was?“ „Die Welt. Du hast eine Menge davon gesehen, Stefan.
Du hast uns anderen vier oder fünf Jahrhunderte voraus, stimmt's? Also, ist sie im Grunde ein Ort, der es wert ist, gerettet zu werden, oder nur ein Haufen Scheiße?“ Stefan schloß die Augen. „Oh.“ „Und was ist mit den Menschen? Der menschlichen Rasse? Sind wir schon die Krankheit oder nur die Symptome dafür? Nimm jemanden wie Elena, zum Beispiel.“
Matts Stimme stockte leicht, dann fuhr er fort. „Elena starb, um die Stadt für Mädchen wie Sue zu einem sicheren Ort zu machen. Und jetzt ist Sue tot. Alles beginnt von vorn. Es ist niemals vorbei. Wir können nicht gewinnen. Was lehrt dich das?“ „Matt...“ „Was ich wirklich frage, ist, wo liegt der Sinn? Ist das ganze eine Art Witz, den ich nicht kapiere? Oder nur ein riesiger, entsetzlicher Fehler? Verstehst du mich?“ „Ja.“ Stefan setzte sich und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Wenn du eine Minute den Mund hältst, werde ich versuchen, dir zu
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