Tagebuch Eines Vampirs 06. Seelen Der Finsternis
bekommen.« Er deutete auf ihren Schleier und fügte hinzu: » Du brauchst ihn nicht über dem Gesicht zu tragen. Drück ihn auf dein Haar und er wird daran haften bleiben.«
Elena tat es, wobei sie die goldene Seite nach außen trug. Der Schleier fiel ihr bis zu den Fersen. Sie betastete ihn und konnte bereits die Möglichkeiten erkennen, die er zum Flirten bot, ebenso wie seine Nachteile. Wenn sie nur dieses verdammte Seil von den Handgelenken bekäme…
Einen Moment später schlüpfte Damon wieder in die Persönlichkeit des unerschütterlichen Herrn seiner Sklavinnen und sagte: » Um unser aller Willen sollten wir in Bezug auf diese Dinge sehr streng sein. Die Slumlords und die Oberlords, die Edelleute, die dieses abscheuliche Durcheinander regieren, das sie die Dunkle Dimension nennen, wissen, dass sie jederzeit nur zwei Tage von einer Revolution entfernt sind. Und wenn wir das Gleichgewicht in irgendeiner Weise verändern, werden sie ein öffentliches Exempel an uns statuieren.«
» Also schön«, sagte Elena. » Hier, halte mein Seil, und ich werde in die Sänfte steigen.«
Aber das Seil machte nicht viel Sinn, nicht sobald sie beide in derselben Sänfte saßen. Sie wurden von vier Männern getragen– keinen großen, aber drahtigen Männern, die alle von gleicher Statur waren, was das obligatorische Schaukeln in Grenzen hielt.
Wenn Elena eine freie Bürgerin gewesen wäre, hätte sie sich niemals von vier Menschen tragen lassen, die– so vermutete sie– Sklaven waren. Tatsächlich hätte sie ein gewaltiges, lautstarkes Theater deswegen gemacht. Aber dieses Gespräch, das sie an den Docks mit sich selbst geführt hatte, war ihr nur allzu gut im Gedächtnis geblieben. Sie war eine Sklavin, selbst wenn Damon niemanden bezahlt hatte, um sie zu kaufen. Sie hatte kein Recht, wegen irgendetwas ein gewaltiges, lautstarkes Theater zu machen. In dieser dunkelroten, abscheulich stinkenden Sänfte konnte sie sich vorstellen, dass ihr Theater vielleicht sogar den kleinen Trägern Probleme bereitet hätte– womöglich würde ihr Besitzer, oder wer auch immer dieses Trägergeschäft leitete, sie bestrafen, als sei es ihre Schuld.
Der beste Plan A für den Augenblick: Mund halten.
Es gab ohnehin jede Menge zu sehen, jetzt, da sie eine Brücke über stinkende Slums und Gassen voller baufälliger Häuser passiert hatten. Zunächst vereinzelte Ladengeschäfte, die schwer verriegelt und aus unverputztem Stein gebaut waren, dann ansehnlichere Gebäude, und plötzlich wurden sie über einen Basar getragen. Aber selbst hier trugen viele Gesichter den Stempel von Armut und Erschöpfung. Wenn Elena überhaupt etwas erwartet hatte, dann eine kalte, schwarze, antiseptische Stadt mit emotionslosen Vampiren und feueräugigen Dämonen in den Straßen. Stattdessen sah jeder, den sie erblickte, menschlich aus, und die Leute verkauften– angefangen von Medikamenten bis hin zu Lebensmitteln und Getränken– Waren, die kein Vampir brauchte.
Nun, vielleicht brauchen die Kitsune und die Dämonen sie, überlegte Elena und schauderte bei der Vorstellung, was ein Dämon möglicherweise essen wollte. An den Straßenecken standen spärlich bekleidete Mädchen und Jungen mit harten Gesichtern und ausgezehrte, zerlumpte Menschen mit jämmerlichen Schildern in den Händen: EINE ERINNERUNG FÜR EINE MAHLZEIT.
» Was meinen sie damit?«, fragte Elena Damon, aber er antwortete nicht sofort.
» Das ist die Art, wie die freien Menschen der Stadt den größten Teil ihrer Zeit verbringen«, sagte er. » Also erinnere dich daran, bevor du anfängst, auf einen deiner Kreuzzüge zu gehen…«
Elena hörte nicht zu. Sie starrte einen der Männer an, die ein solches Schild hochhielten. Er war grauenhaft dünn, mit einem zotteligen Bart und schlechten Zähnen, aber noch schlimmer war der Ausdruck leerer Verzweiflung in seinen Zügen. Ab und zu streckte er eine zitternde Hand aus, in der ein kleiner durchsichtiger Ball lag, den er auf der Innenfläche der Hand balancierte und dabei murmelte: » Ein Sommertag, als ich jung war. Ein Sommertag für ein Zehnguldenstück.« Doch meistens war niemand in der Nähe, wenn er das sagte.
Elena streifte den Lapislazuliring, den Stefano ihr geschenkt hatte, vom Finger und streckte ihn dem Mann entgegen. Sie wollte Damon nicht verärgern, indem sie die Sänfte anhalten ließ oder herauszuspringen versuchte, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zuzurufen: » Kommen Sie bitte her!«
Er hörte sie und lief
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