Tagebuch Eines Vampirs 06. Seelen Der Finsternis
schnell herbei. Elena sah, wie sich etwas in seinem Bart bewegte– Läuse vielleicht–, und sie zwang sich, auf den Ring zu schauen, während sie sagte: » Nehmen Sie ihn. Schnell, bitte.«
Der alte Mann starrte den Ring an, als sei er ein Festmahl. » Ich habe kein Wechselgeld«, stöhnte er und hob die Hand, um sich mit dem Ärmel über den Mund zu wischen. Er schien drauf und dran zu sein, bewusstlos zu Boden zu fallen. » Ich habe kein Wechselgeld!«
» Ich will kein Wechselgeld!«, erwiderte Elena, der das Sprechen wegen eines riesigen Kloßes in ihrer Kehle schwerfiel. » Nehmen Sie den Ring. Beeilen Sie sich oder ich werde ihn fallen lassen.«
Er riss ihn ihr aus der Hand. » Mögen die Wächter Euch segnen, meine Dame«, rief er, während er versuchte, mit den Sänftenträgern weiter Schritt zu halten. » Höre mich, wer mag! Mögen sie Euch segnen!«
» Das solltest du wirklich nicht tun«, meinte Damon, als die Stimme hinter ihnen erstorben war. » Du weißt, dass er sich davon keine Mahlzeit besorgen wird.«
» Er hatte Hunger«, sagte Elena leise. Sie konnte nicht erklären, dass er sie an Stefano erinnerte, nicht gerade jetzt. » Es war mein Ring«, verteidigte sie sich. » Ich nehme an, du wirst sagen, dass er den Erlös für Alkohol oder Drogen ausgeben wird.«
» Nein, aber er wird auch keine Mahlzeit dafür bekommen. Er wird ein Festmahl bekommen.«
» Nun, um so…«
» In seiner Fantasie. Er wird eine staubige Kugel mit den Erinnerungen eines alten Vampirs an ein römisches Gelage kaufen oder auch eine mit den Erinnerungen eines Jüngeren. Dann wird er es im Geiste immer und immer wieder durchgehen, bis er langsam verhungert.«
Elena war entsetzt. » Damon! Schnell! Ich muss umkehren und ihn suchen…«
» Das kannst du nicht, fürchte ich.« Damon hob träge eine Hand. Er hielt sie an ihrem Seil fest. » Außerdem ist er längst verschwunden.«
» Wie kann er das tun? Wie könnte irgendjemand das tun?«
» Wie kann sich ein Lungenkrebspatient weigern, mit dem Rauchen aufzuhören? Aber ich stimme dir zu, dass diese Kugeln schlimmer süchtig machen können als alles andere. Gib den Kitsune die Schuld daran, dass sie ihre Sternenbälle hier hergebracht und sie zu der beliebtesten Form der Obsession gemacht haben.«
» Sternenbälle? Hoshi no tama? «, stieß Elena hervor.
Damon starrte sie gleichermaßen überrascht an. » Du weißt von ihnen?«
» Ich weiß nur, was Meredith’ Nachforschungen ergeben haben. Sie sagte, dass Kitsune häufig mit Schlüsseln portraitiert würden«– sie zog die Augenbrauen hoch und sah ihn an– » oder mit Sternenbällen. Und dass sie laut einigen Mythen all ihre Macht in den Ball fließen lassen können, sodass man, wenn man den Ball findet, den Kitsune kontrollieren kann. Sie und Bonnie wollen Misaos und Shinichis Sternenbälle finden, um sie unter ihre Kontrolle zu bringen.«
» Sei still, mein nicht schlagendes Herz«, sagte Damon dramatisch, aber in der nächsten Sekunde war er wieder vollkommen sachlich. » Erinnerst du dich daran, was der Alte gesagt hat? Ein Sommertag für ein Zehnguldenstück? Er hat davon gesprochen.« Damon griff nach der kleinen durchsichtigen Kugel, die der alte Mann in die Sänfte hatte fallen lassen, und hielt sie an Elenas Schläfe.
Die Welt verschwand.
Damon war fort. Die Bilder und die Geräusche– ja, und auch die Gerüche– des Basars waren fort. Sie saß auf sattgrünem Gras, das sich in einer leichten Brise kräuselte, und sie betrachtete eine Trauerweide, die sich zu einem Fluss hinuntersenkte, der kupferfarben und gleichzeitig von einem tiefen Grün war. In der Luft lag ein süßer Duft– Geißblatt, Fresien? Etwas Köstliches, das Elena berührte, während sie sich zurücklehnte, um weiße Wolken wie aus dem Bilderbuch zu betrachten, die über einen blauen Himmel zogen.
Sie fühlte sich– sie wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. Sie fühlte sich jung, aber irgendwo im Inneren wusste sie, dass sie in Wirklichkeit jünger war als diese fremde Persönlichkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Trotzdem fand sie es aufregend, dass es Frühling war, und jedes goldgrüne Blatt, jeder biegsame kleine Grashalm, jede schwerelose, weiße Wolke schien mit ihr zu frohlocken.
Dann hämmerte plötzlich ihr Herz. Sie hatte gerade einen Schritt hinter sich gehört. Binnen eines einzigen glückseligen Augenblicks war sie auf den Beinen, die Arme voller Liebe ausgestreckt, voll der wilden Hingabe, die sie
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