Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
Zweige der Bäume, die davor standen. Es sah Stefano gar nicht
ähnlich, sich zu verspäten.
Sie checkte ihr Handy. Es war zu früh, um noch einmal zu versuchen,
ihn zu erreichen.
Draußen bewegte sich etwas Dunkles und sie schnappte nach Luft.
Dann schüttelte sie den Kopf. Es waren nur die Äste der Bäume, die in
der Brise wogten. Trotzdem trat sie näher ans Fenster und versuchte, et-
was durch die Scheibe zu erkennen. Ihr Zimmer lag im zweiten Stock; so
hoch oben würde niemand im Baum sitzen. Zumindest niemand Mensch-
liches. Sie schauderte.
»Elena«, erklang eine kühle, klare Stimme von draußen.
Elena quiekte erschrocken auf, machte einen Satz zurück und drückte
eine Hand auf ihr hämmerndes Herz. Nachdem sie sich etwas beruhigt
hatte, trat sie wieder ans Fenster und riss es auf.
»Damon«, sagte sie. »Du hast mich zu Tode erschreckt! Was machst du
da draußen?«
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Er ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Ich warte natürlich darauf, dass
du mich in dein Zimmer einlädst«, antwortete Damon mit spöttischem
Unterton.
»Du brauchst keine Einladung«, erwiderte Elena. »Du hast mir beim
Einzug geholfen.«
»Ich weiß«, grinste er. »Ich bin ein Gentleman.«
Elena zögerte. Sie vertraute Damon. Natürlich vertraute sie ihm, aber
die Situation war irgendwie … etwas zu intim. Damon draußen in der
Dunkelheit, Elena allein in ihrem Zimmer, ohne ihre Mitbewohnerinnen.
Zuhause in Fell’s Church war er zwar schon in ihrem Zimmer gewesen,
aber das war etwas anderes, denn schließlich lag das Zimmer von Tante
Judith und Robert im gleichen Flur. Sie fragte sich, ob Stefano etwas
dagegen hätte, wenn sie mit Damon allein war, verscheuchte den
Gedanken aber sofort wieder. Er vertraute Elena und das allein zählte.
»Elena.« Damons Stimme war sanft, aber beharrlich. »Lass mich rein,
bevor ich falle.«
Sie verdrehte die Augen. »Du würdest niemals fallen. Und wenn, dann
würdest du fliegen. Aber du kannst trotzdem reinkommen.«
Schneller als für das menschliche Auge wahrnehmbar, huschte er an
ihre Seite. Sie wich etwas zurück. Seine Augen und sein Haar so dunkel
wie die Nacht, seine Haut bleich und leuchtend, seine Züge perfekt ge-
meißelt. Er roch sogar gut. Und seine Lippen sahen so weich aus …
Elena ertappte sich dabei, dass sie sich zu ihm vorbeugte und ihre Lip-
pen leicht öffnete. Dann trat sie entschlossen zurück. »Lass das«, befahl
sie.
»Ich mache doch gar nichts«, sagte Damon unschuldig. Als Elena skep-
tisch eine Augenbraue hochzog, zuckte er die Achseln und strahlte sie an.
Genau, dachte Elena. Genau das ist der Grund, warum Stefano etwas
dagegen haben könnte, dass Damon hier ist.
Er schaute sich im Zimmer um und zog ebenfalls eine Augenbraue
hoch. »Tja, Elena«, begann er, »ich bin fast enttäuscht. Wenn man sich so
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umsieht, erkennt man gleich, wo sich deine Freundinnen eingerichtet
haben.«
Elena folgte seinem Blick. In Bonnies Ecke herrschte Chaos, ein
Durcheinander von Stofftieren, abgelegten Klamotten und Kos-
metikartikel. Im Gegensatz dazu war Meredith’ Seite fein säuberlich
aufgeräumt, die Bücher standen in alphabetischer Reihenfolge auf dem
Regal, auf dem Schreibtisch lag neben ihrem schmalen silbernen Laptop
nur ein einziger silberner Stift und ihr Bett zierte eine hübsche
Seidendecke mit schwarz-grauem Muster. Ihre Kommode und ihr
Kleiderschrank waren zwar geschlossen, aber Meredith hatte alle Sachen
darin nach Anlass, Farbe und Saison sortiert, wie Elena wusste. Damon
hatte recht: An ihren jeweiligen Zimmerecken konnte man erkennen, dass
Meredith rational, kultiviert, sorgfältig beherrscht war und eher dazu
neigte, für sich zu bleiben, im Gegensatz zu der chaotischen, lebenslusti-
gen und desorganisierten Bonnie.
Aber was war mit Elenas Sachen? Was sagten sie über ihre Persönlich-
keit aus? Mit kritischem Auge betrachtete sie ihren Teil des Zimmers.
Gerahmte Kunstdrucke aus ihren Lieblingsausstellungen hingen an der
Wand, ihre silberne Bürste und ihr Kamm waren sorgfältig auf der Kom-
mode zurechtgelegt und das dunkelblaue Laken auf dem Bett brachte ihre
Augen und ihr Haar besonders gut zur Geltung. War sie also der Typ, der
an allem festhielt, was ihm einmal gefiel, und der sich nicht so leicht ver-
änderte? Der Typ, der sich nur allzu deutlich darüber bewusst war, was
ihm stand? Sie war sich nicht sicher.
Damon lächelte, diesmal mit einem Hauch von Ironie.
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