Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
akademischen Höhenflügen aufschwingen
oder künstlerische Erfolge landen, weit hergeholt. Das wusste er.
Es war nicht etwa falsche Bescheidenheit, sondern gesunder Realismus,
wenn er seine besten Seiten mit ausgezeichneter Athlet, guter Freund und
ehrlicher, hilfsbereiter Junge von nebenan beschrieb. Er war zwar nicht
dumm, aber wenn herausragende intellektuelle und kreative Fähigkeiten
Voraussetzungen dafür waren, Mitglied der Vitale Society zu werden, kon-
nte er genauso gut sofort aufgeben.
Er rieb sich den Nacken und schaute die anderen Society-Anwärter an.
Es beruhigte ihn, dass sich auf fast allen Mienen so etwas wie Panik
abzeichnete: Anscheinend hatte niemand mit der Aufgabe gerechnet, alle
Bereiche in sich zu vereinen. Chloe, das süße Mädchen mit dem runden
Gesicht, das ihm bei der ersten Versammlung aufgefallen war, sah ihn an
und zwinkerte ihm flüchtig zu, und er lächelte zurück und spürte ein er-
staunliches Glücksgefühl.
»Heute«, verkündete Ethan, »stehen sportliche Leistungen auf dem
Programm.« Matt seufzte vor Erleichterung.
Doch überall um sich herum sah er lange Gesichter. Die Intellektuellen,
die Anführer, die angehenden kreativen Genies – sie alle freuten sich
nicht gerade darauf, ihre sportlichen Fähigkeiten zu erproben. Ein leises,
rebellisches Murmeln schwoll unter ihnen an.
»Nicht schmollen«, lachte Ethan. »Ich verspreche euch, wenn ihr Voll-
mitglieder der Society werdet, hat jeder von euch den Gipfel seiner
körperlichen Verfassung erreicht. Dann werdet ihr zum ersten Mal
spüren, was es heißt, wirklich lebendig zu sein.« Seine Augen glänzten vor
Begeisterung.
Ethan fuhr fort, den Kandidaten die Aufgabe zu erklären. Sie sollten
vierundzwanzig Kilometer laufen und unterwegs auch noch einige
Hindernisse überwinden. »Macht euch darauf gefasst, dass ihr schmutzig
werdet«, sagte er gut gelaunt. »Aber es wird ein wunderbares Erlebnis
werden. Und wenn ihr fertig seid, habt ihr etwas Neues erreicht. Ihr dürft
einander gern helfen. Aber denkt daran: Wenn ihr den Lauf nicht
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innerhalb von drei Stunden schafft, seid ihr vom nächsten Schritt des
Aufnahmeverfahrens ausgeschlossen.« Er lächelte. »Nur die Besten
können Mitglieder der Vitale Society werden.«
Matt schaute sich erneut um und bemerkte, dass nun alle Anwärter –
selbst diejenigen, die aussahen, als kämen sie niemals aus dem Chemie-
Labor oder der Bibliothek heraus –, ihre Turnschuhe fest schnürten und
mit motiviertem Gesichtsausdruck Dehnübungen machten.
»Heiliger Strohsack«, sagte eine Stimme neben ihm. Eine schöne
Stimme, mit leichtem Näseln und Südstaaten-Akzent. Matt lächelte, be-
vor er sich umdrehte und sah, dass es Chloe war. »Ich schätze, du bist so
ziemlich der Einzige hier, der damit keine großen Probleme haben wird«,
bemerkte sie.
Sie war so süß. Wenn sie lächelte, erschienen kleine Grübchen in ihren
Wangen, und ihr kurzes dunkles Haar lockte sich hinter den Ohren. »Hey,
ich bin Matt«, stellte er sich vor.
»Das weiß ich bereits«, erwiderte sie lächelnd. »Du bist unser Football-
Star.«
»Und du bist Chloe, die umwerfende Künstlerin«, sagte er.
»Oh.« Sie errötete. »Was das betrifft, bin ich mir nicht so sicher.«
»Ich würde schrecklich gern einmal deine Arbeiten sehen«, meinte er,
und ihr Lächeln wurde breiter.
»Irgendwelche Tipps für den Lauf hier?«, fragte sie. »Ich laufe niemals,
es sei denn, ich habe Angst, den Bus zu verpassen. Aber ich fürchte, das
werde ich heute bereuen.«
Sie sah ihn so flehend an, dass Matt sie am liebsten spontan in die
Arme genommen hätte. Stattdessen schaute er nachdenklich gen Himmel.
»Unter diesen Bedingungen«, sagte er, »ist es das Beste, wenn du die
Arme in einem Fünfziggradwinkel Richtung Boden hältst und mit leicht-
en, federnden Schritten läufst.«
Chloe wirkte einen Moment lang verblüfft, dann kicherte sie. »Du zieh-
st mich auf«, sagte sie. »Das ist nicht fair. Ich habe keine Ahnung von
dieser Sache.«
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»Ich werde dir helfen«, antwortete Matt und fühlte sich dabei richtig
gut. »Zusammen schaffen wir es.«
Kapitel Neun
Wo bist du?, simste Elena ungeduldig. Stefano hätte sie bereits vor mehr
als zwanzig Minuten in ihrem Zimmer abholen sollen. Das Treffen mit
seiner Lerngruppe musste inzwischen längst vorbei sein. Sie war am
Verhungern.
Sie ging auf und ab und schaute gelegentlich aus dem Fenster in die
dunklen
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