Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
Nacht hier aufgetaucht war, nachdem alle gedacht
hatten, er sei tot.
Es klopfte leise, dann ging die Tür auf. Stefano stand da und sah sie an.
»Bist du fertig?«, fragte er. »Deine Tante macht sich schon Sorgen. Sie
ist der Meinung, dass du nicht mehr genug Zeit haben wirst, um vor der
Einführungsveranstaltung noch auszupacken, wenn wir nicht langsam
aufbrechen.«
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Elena umarmte ihn. Er roch frisch und nach Wald und sie schmiegte
den Kopf an seine Schulter. »Ich komme schon«, sagte sie. »Aber es ist
schwer, sich zu verabschieden, weißt du? Alles verändert sich.«
Stefano beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie sanft auf den Mund.
»Ich weiß«, antwortete er dann und strich mit dem Finger zart über die
Wölbung ihrer Unterlippe. »Ich werde die Kartons nach unten tragen und
dir noch eine Minute Zeit lassen. Tante Judith wird es bestimmt schon
besser gehen, wenn sie sieht, dass der Wagen beladen wird.«
»Okay. Ich komme gleich nach.«
Stefano schleppte die Kartons hinaus und Elena sah sich seufzend ein
allerletztes Mal um. Die blauen geblümten Vorhänge, die ihre Mutter für
sie genäht hatte, als Elena neun gewesen war, hingen noch immer vor den
Fenstern. Elena erinnerte sich dran, wie ihre Mutter sie mit feuchten Au-
gen umarmt hatte, als ihr kleines Mädchen ihr erklärte, es sei zu groß für
Vorhänge mit Puh dem Bär.
Da füllten sich auch Elenas Augen mit Tränen, und sie schob sich das
Haar hinter die Ohren wie ihre Mutter, wenn sie konzentriert
nachgedacht hatte. Elena war so jung gewesen, als ihre Eltern starben.
Wenn sie noch am Leben gewesen wären, dann hätten sie und ihre Mutter
jetzt vielleicht Freundinnen sein können, nicht nur Mutter und Tochter.
Ihre Eltern hatten ebenfalls das Dalcrest-College besucht. Sie hatten
sich dort sogar kennengelernt. Unten auf dem Klavier stand ein Bild von
ihnen, wie sie in ihren Abschlussroben auf dem sonnigen Rasen vor der
Bibliothek von Dalcrest lachten; sie waren unglaublich jung und wirkten
unglaublich glücklich.
Vielleicht konnte Elenas eigenes Studium in Dalcrest sie ihren Eltern
näherbringen. Vielleicht würde sie zwischen den neoklassischen Ge-
bäuden und auf den weitläufigen grünen Wiesen des Colleges mehr über
die Menschen erfahren, die sie gewesen waren, bevor Elena sie als Mama
und Papa wahrgenommen hatte.
Sie ging nicht wirklich fort. Sie machte einfach nur den nächsten Schritt
in ihrem Leben.
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Elena reckte entschlossen das Kinn vor, verließ das Zimmer und schloss
die Tür hinter sich.
Unten im Flur standen Tante Judith, deren Ehemann Robert und Elen-
as fünf Jahre alte Schwester Margaret und warteten. Sie sahen Elena er-
wartungsvoll an, als sie die Treppe herunterkam.
Tante Judith machte natürlich jede Menge Wirbel. Sie konnte einfach
nicht stillstehen; sie rang die Hände, strich sich übers Haar oder drehte
an ihren Ohrringen. »Elena«, sagte sie, »bist du dir sicher, dass du alles
eingepackt hast, was du brauchst? Es gibt so viel, woran man denken
muss.« Sie runzelte die Stirn.
Die Aufregung ihrer Tante machte es Elena leichter, sie beruhigend an-
zulächeln und zu umarmen. Tante Judith drückte sie fest an sich,
entspannte sich für einen Moment und schniefte. »Ich werde dich vermis-
sen, Schätzchen.«
»Ich werde dich auch vermissen«, antwortete Elena mit zitternden Lip-
pen, während sie Tante Judith noch fester umarmte. Sie stieß ein un-
sicheres Lachen aus. »Aber ich komme ja wieder. Falls ich etwas ver-
gessen habe oder Heimweh kriege, kann ich sogar schon am Wochenende
wiederkommen. Ich brauche gar nicht bis Thanksgiving zu warten.«
Neben ihnen trat Robert von einem Fuß auf den anderen und räusperte
sich. Elena ließ Tante Judith los und drehte sich zu ihm um.
»Also, ich weiß, dass College-Studenten eine Menge Unkosten haben«,
sagte er. »Wir wollen nicht, dass du dir Sorgen ums Geld machen musst,
daher hast du ja das Studentenkonto, aber …« Er öffnete seine Brieftasche
und reichte Elena ein Bündel Geldscheine. »Nur für den Fall der Fälle.«
»Oh«, murmelte Elena gerührt und war ein wenig durcheinander.
»Vielen Dank, Robert, aber das ist wirklich nicht nötig.«
Er tätschelte unbeholfen ihre Schulter. »Wir möchten, dass du alles
hast, was du brauchst«, sagte er bestimmt. Elena lächelte ihn dankbar an,
faltete die Geldscheine zusammen und steckte sie ein.
Neben Robert starrte Margaret stur auf ihre Schuhe.
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