Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
brauchte nicht zu weinen, schließlich würde sie Alaric bald wieder-
sehen. Sehr bald. Und in der Zwischenzeit würde sie beweisen, dass sie
eine echte Sulez war: auf alles vorbereitet.
Dalcrest war wunderschön, fand Elena. Sie war schon früher hier
gewesen. Einmal waren Bonnie, Meredith und sie den ganzen Weg hier-
her zu einer Party gefahren, als Meredith mit einem Jungen aus dem Col-
lege ging. Und sie erinnerte sich vage daran, dass ihre Eltern sie zu einem
Alumnitreffen mitgenommen hatten, damals, als sie noch ganz klein
gewesen war.
Aber jetzt, da sie dazugehörte und Dalcrest für die nächsten vier Jahre
ihr Zuhause sein würde, sah alles noch mal ganz anders aus.
»Ziemlich edel«, kommentierte Damon, als der Laster durch die
großen, vergoldeten Eingangstore des Colleges rauschte und an Gebäuden
aus georgianischem Backstein und neoklassischem Marmor vorbeifuhr.
»Das heißt, für amerikanische Verhältnisse.«
»Tja, wir können nun mal nicht alle in italienischen Palästen groß wer-
den«, antwortete Elena geistesabwesend, während sie verwirrt den leicht-
en Druck seines Oberschenkels an ihrem spürte. Sie saß im Führer-
häuschen des Lasters zwischen Stefano und Damon und sie hatten nicht
viel Platz. Diese Nähe der beiden Brüder machte sie beinahe nervös.
Damon verdrehte die Augen. »Wenigstens hast du keinen allzu furcht-
baren Ort ausgesucht«, sagte er gedehnt zu Stefano, »wenn du schon
Mensch spielen und schon wieder die Schulbank drücken musst, kleiner
Bruder. Und natürlich wird diese hübsche Begleitung für alle Unannehm-
lichkeiten entschädigen«, fügte er mit einem charmanten Blick auf Elena
hinzu. »Aber ich halte es immer noch für Zeitverschwendung.«
»Und trotzdem bist du hier«, entgegnete Elena.
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» Ich bin nur hier, um dich vor Schwierigkeiten zu bewahren«, gab Da-
mon zurück.
»Du musst Damon entschuldigen«, warf Stefano gut gelaunt ein. »Er
kann das deshalb nicht nachvollziehen, weil er in längst vergangenen
Zeiten schon mal von einer Universität vor die Tür gesetzt worden ist.«
Damon lachte. »Allerdings hatte ich viel Spaß, als ich dort war«, stellte
er fest. »Damals gab es für einen wohlhabenden Studenten alle nur er-
denklichen Vergnügungsmöglichkeiten. Ich könnte mir jedoch vorstellen,
dass die Dinge sich ein wenig geändert haben.«
Natürlich konnten die beiden ihre Sticheleien nicht lassen, aber ihren
Stimmen fehlte der frühere harte, bittere Unterton. Damon lächelte Ste-
fano über Elenas Kopf hinweg mit ironischer Zuneigung an, während Ste-
fanos Finger entspannt auf dem Lenkrad lagen.
Elena schob eine Hand auf Stefanos Knie und spürte, wie Damon neben
ihr verkrampfte. Aber als sie ihn ansah, blickte er unbeteiligt durch die
Windschutzscheibe. Elena zog ihre Hand wieder weg. Auf keinen Fall
wollte sie das zerbrechliche Gleichgewicht zwischen ihnen gefährden.
»Da wären wir«, sagte Stefano, als er vor einem mit Efeu überwucher-
ten Gebäude anhielt. »Pruitt House.«
Vor ihnen ragte das Wohnheim beeindruckend auf, ein hohes Back-
steingebäude mit einem Türmchen auf einer Seite. Die Fenster glitzerten
in der Nachmittagssonne.
»Es soll das schönste Wohnheim auf dem ganzen Campus sein«, be-
merkte Elena.
Damon öffnete seine Tür und sprang aus dem Laster, dann wandte er
sich Stefano zu, der Elena aus dem Wagen half, und sah ihn eindringlich
an. »Das schönste Wohnheim auf dem ganzen Campus, ja? Sag bloß, du
hast deine Überzeugungskraft zu deinem persönlichen Nutzen eingesetzt,
Junge?« Er schüttelte den Kopf. »Deine Moral geht vor die Hunde.«
»Möglich, dass du zu guter Letzt doch noch auf mich abfärbst«, er-
widerte Stefano, und seine Lippen zuckten erheitert. »Ich bin in dem
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Türmchen untergebracht, in einem Einzelzimmer. Es hat sogar einen
Balkon.«
»Wie schön für dich«, antwortete Damon und schaute schnell zwischen
Stefano und Elena hin und her. »Dann ist das hier also ein Wohnheim für
Jungen und für Mädchen, was? Tz, tz, tz, die Sünden der modernen
Welt.« Sein Gesicht zeigte für einen Moment einen nachdenklichen Aus-
druck, doch dann lächelte er strahlend und begann, das Gepäck
auszuladen.
In dieser Sekunde hatte er beinah einsam auf Elena gewirkt – was
lächerlich war, denn Damon war niemals einsam. Aber dieser flüchtige
Eindruck genügte, dass sie sich zu einem impulsiven Vorschlag hinreißen
ließ: »Du könntest doch
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