Tagebuch für Nikolas
und Oak Bluffs. Manchmal würde ich von zu Hause aus arbeiten oder Hausbesuche machen, aber den Rest meiner Zeit würde ich im Martha’s Vineyard Hospital oder im Vineyard Walk-In Medical Center verbringen. Dort nahm ich auch noch an einigen Maßnahmen der Herz-Reha teil.
Ich war allein, abgesehen von Gus, und lebte ein einsames Leben, aber die meiste Zeit war ich zufrieden.
Vielleicht, weil ich keine Ahnung hatte, was mir zu jener Zeit am meisten fehlte: dein Daddy und du.
Lieber Nikolas,
ich will dir eine Geschichte erzählen. Ich war auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause, als ich ein komisches Geräusch hörte. Was war das? Bumm … sssst!
Ich bin an den Straßenrand gefahren und aus meinem Jeep ausgestiegen, um nachzuschauen.
Verflixt und zugenäht! Der rechte Reifen war so platt wie ein Pfannkuchen. Ich hätte den Reifen wechseln können und hätte es auch getan, doch ich hatte das Reserverad herausgenommen, um den Platz für all meine anderen Sachen zu schaffen, als ich umgezogen war.
Übers Handy rief ich die Werkstatt an. Ich war sauer auf mich selbst, dass ich dort anrufen musste. Irgendein Kerl meldete sich und ließ sich dazu herab, sich meiner anzunehmen; ein anderer Kerl würde zu mir herauskommen, um den Reifen zu wechseln. Der Mann am Telefon ließ mich fühlen, dass ich bloß eine »Frau am Steuer« war, und das ging mir schrecklich gegen den Strich. Ich wusste genau, wie man einen Reifen wechselt. Ich bin stolz darauf, dass ich unabhängig bin und allein zurechtkomme. Und ich bin stolz auf meine gute, altmodische Standhaftigkeit.
Ich stand also da, an die Tür auf der Beifahrerseite gelehnt, wartete auf den Werkstattwagen und tat so, als würde ich die herrliche Landschaft bewundern, und ließ es für die vorüberfahrenden Wagen so aussehen, als wäre ich deswegen an den Straßenrand gefahren.
Dann hielt ein Wagen direkt hinter meinem.
Er kam eindeutig nicht von der Tankstelle.
Es sei denn, sie hatten ein waldgrünes Jaguar-Cabrio geschickt.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte ein Mann. Er kam schon auf meinen Wagen zu, und um ehrlich zu sein, konnte ich nicht die Augen von ihm wenden.
»Nein, danke … Ich habe die Shell-Tankstelle in der Stadt angerufen. Sie werden gleich da sein. Trotzdem vielen Dank.«
Der Bursche hatte irgendetwas Vertrautes an sich. Ich fragte mich, ob ich ihn schon einmal in einem der Läden auf der Insel getroffen hatte. Oder vielleicht im Krankenhaus.
Aber er war groß und gut aussehend, und ich hätte mich bestimmt an ihn erinnert. Er hatte ein nettes, offenes Lächeln und machte einen lässigen Eindruck.
»Ich könnte den Reifen wechseln«, bot er an, und es gelang ihm irgendwie, nicht herablassend zu wirken, als er das sagte. »Ich weiß, ich fahre einen Liebhaberwagen, aber eigentlich brauche ich gar keinen Luxus.«
»Vielen Dank für Ihr Angebot, aber ich habe meinen Ersatzreifen rausgenommen, um Platz für wichtigere Dinge wie meine Stereoanlage und meine Sammlung antiker Kerzenleuchter zu schaffen.«
Er lachte … und er war mir so vertraut. Wer war dieser Mann? Woher kannte ich ihn?
»Ich fühle mich allerdings geschmeichelt«, fuhr ich fort, »dass ein Mann in einem schicken Cabrio bereit ist, mir den Reifen zu wechseln.«
Er lachte wieder - ein schönes Lachen. So vertraut.
»Hey, ich bin unermesslich … in mir ist Vielfalt.«
»Walt Whitman!«, sagte ich - und dann fiel mir wieder ein, wer er war. »Du hast das die ganze Zeit gesagt. Du hast Walt Whitman zitiert. Matt?«
»Suzanne Bedford!«, entgegnete er. »Ich war mir fast sicher, dass du es bist.«
Er war ganz überrascht, nach all der Zeit plötzlich über mich zu stolpern, einfach so. Es musste fast zwanzig Jahre her sein, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten.
Matt Wolfe sah sogar noch besser aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Mit siebenunddreißig war er ein sehr ansehnlicher Mann geworden. Er war schlank und hatte kurzes, braunes Haar und ein einnehmendes Lächeln. Er schien großartig in Form zu sein. Wir unterhielten uns am Straßenrand. Er war Anwalt geworden und arbeitete für die Umweltschutzbehörde und gleichzeitig als Kunsthändler. Ich musste lachen, als er mir das erzählte. Matt hatte immer gewitzelt, dass er nie ein Unternehmerschwein werden würde, wie er damals die Geschäftsleute nannte.
Er war nicht überrascht zu hören, dass ich Ärztin war. Matt war allerdings erstaunt, dass ich nicht mit jemandem zusammen war, sondern allein nach Martha’s Vineyard
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