Tagebuch (German Edition)
mich fest an ihn und fühlte die Rührung in mir aufsteigen. Tränen sprangen mir in die Augen, die linke fiel auf seinen Overall, die rechte rann an meiner Nase vorbei und fiel auch auf seinen Overall. Ob er es gemerkt hat? Keine Bewegung verriet es. Ob er genauso fühlt wie ich? Er sprach auch fast kein Wort. Ob er weiß, dass er zwei Annes vor sich hat? Das alles sind unbeantwortete Fragen.
Um halb neun stand ich auf und ging zum Fenster. Dort nehmen wir immer Abschied voneinander. Ich zitterte noch, ich war noch Anne Nummer zwei. Er kam auf mich zu, ich legte meine Arme um seinen Hals und drückte einen Kuss auf seine linke Wange. Gerade wollte ich auch zur rechten, als mein Mund den seinen traf. Taumelnd drückten wir uns aneinander, noch einmal und noch einmal, um nie mehr aufzuhören!
Peter hat so viel Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Er hat zum ersten Mal in seinem Leben ein Mädchen entdeckt, hat zum ersten Mal gesehen, dass die lästigsten Mädchen auch ein Inneres und ein Herz haben und sich verändern, sobald sie mit einem allein sind. Er hat zum ersten Mal in seinem Leben seine Freundschaft und sich selbst gegeben, er hat noch nie zuvor einen Freund oder eine Freundin gehabt. Nun haben wir uns gefunden. Ich kannte ihn auch nicht, hatte auch nie einen Vertrauten, und nun ist es doch so weit gekommen.
Wieder die Frage, die mich nicht loslässt: »Ist es richtig?« Ist es richtig, dass ich so schnell nachgebe, dass ich so heftig bin, genauso heftig und verlangend wie Peter? Darf ich, ein Mädchen, mich so gehen lassen?
Es gibt nur eine Antwort darauf: »Ich sehne mich so … schon so lange. Ich bin so einsam und habe nun einen Trost gefunden.«
Morgens sind wir normal, nachmittags auch noch ziemlich, aber abends kommt die Sehnsucht des ganzen Tages hoch, das Glück und die Wonne von all den vorherigen Malen, und wir denken nur aneinander. Jeden Abend, nach dem letzten Kuss, möchte ich am liebsten wegrennen, ihm nicht mehr in die Augen sehen, nur weg, weg in die Dunkelheit und allein sein.
Aber was erwartet mich, wenn ich die vierzehn Stufen hinuntergegangen bin? Volles Licht, Fragen hier und Lachen dort. Ich muss reagieren und darf mir nichts anmerken lassen.
Mein Herz ist noch zu weich, um so einen Schock wie gestern Abend einfach zur Seite zu schieben. Die weiche Anne kommt zu selten und lässt sich darum auch nicht sofort wieder zur Tür hinausjagen. Peter hat mich berührt, tiefer, als ich je in meinem Leben berührt wurde, außer in meinem Traum! Peter hat mich angefasst, hat mein Inneres nach außen gekehrt. Ist es dann nicht für jeden Menschen selbstverständlich, dass er danach seine Ruhe braucht, um sich innerlich wieder zu erholen? O Peter, was hast du mit mir gemacht? Was willst du von mir?
Wohin soll das führen? Jetzt begreife ich Bep, nun, wo ich das erlebe. Nun verstehe ich ihre Zweifel. Wenn ich älter wäre und er würde mich heiraten wollen, was würde ich dann antworten? Anne, sei ehrlich! Du würdest ihn nicht heiraten können, aber loslassen ist auch so schwer. Peter hat noch zu wenig Charakter, zu wenig Willenskraft, zu wenig Mut und Kraft. Er ist noch ein Kind, innerlich nicht älter als ich. Er will nur Ruhe und Glück.
Bin ich wirklich erst vierzehn? Bin ich wirklich noch ein dummes Schulmädchen? Bin ich wirklich noch so unerfahren in allem? Ich habe mehr Erfahrung als die anderen, ich habe etwas erlebt, was fast niemand in meinem Alter kennt.
Ich habe Angst vor mir selbst, habe Angst, dass ich mich in meinem Verlangen zu schnell wegschenke. Wie kann das dann später mit anderen Jungen gut gehen? Ach, es ist so schwierig, immer gibt es das Herz und den Verstand, und jedes muss zu seiner Zeit sprechen. Aber weiß ich sicher, dass ich die Zeit richtig gewählt habe?
Deine Anne M. Frank
Dienstag, 2. Mai 1944
Liebe Kitty!
Samstagabend habe ich Peter gefragt, ob er meint, dass ich Vater etwas von uns erzählen muss. Nach einigem Hin und Her sagte er Ja. Ich war froh, es beweist ein gutes Gefühl. Sofort als ich hinunterkam, ging ich mit Vater Wasser holen. Auf der Treppe sagte ich schon: »Vater, du verstehst sicher, dass Peter und ich, wenn wir zusammen sind, nicht einen Meter voneinander entfernt sitzen. Findest du das schlimm?«
Vater antwortete nicht gleich, dann sagte er: »Nein, schlimm finde ich das nicht, Anne. Aber hier, bei diesem beschränkten Raum, musst du vorsichtig sein.« Er sagte noch etwas in diesem Sinn, dann gingen wir nach oben.
Am
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