Tagebuch (German Edition)
es war so herrlich! Ich konnte nicht sprechen, der Genuss war zu groß. Er streichelte ein bisschen ungeschickt meine Wange und meinen Arm, fummelte an meinen Locken, und unsere Köpfe lagen fast die ganze Zeit aneinander.
Das Gefühl, das mich dabei durchströmte, kann ich dir nicht beschreiben, Kitty. Ich war überglücklich, und ich glaube, er auch.
Um halb neun standen wir auf. Peter zog seine Turnschuhe an, um bei einer zweiten Runde durch das Haus auch leise zu gehen, und ich stand dabei. Wie ich plötzlich die richtige Bewegung fand, weiß ich nicht, aber bevor wir nach unten gingen, gab er mir einen Kuss auf die Haare, halb auf meine linke Wange und halb auf mein Ohr. Ohne mich umzuschauen rannte ich hinunter und warte mit großer Sehnsucht auf heute.
Sonntagmorgen, kurz vor 11 Uhr .
Deine Anne M. Frank
Montag, 17. April 1944
Liebe Kitty!
Glaubst du, dass Vater und Mutter es gutheißen würden, dass ich auf einer Couch sitze und einen Jungen küsse? Ein Junge von siebzehneinhalb und ein Mädchen von fast fünfzehn? Ich glaube es eigentlich nicht, aber ich muss mich bei dieser Sache auf mich selbst verlassen. Es ist so ruhig und sicher, in seinen Armen zu liegen und zu träumen, es ist so aufregend, seine Wange an meiner zu fühlen, es ist so herrlich zu wissen, dass jemand auf mich wartet. Aber – und ein Aber gibt es tatsächlich – wird Peter es dabei belassen wollen? Ich habe sein Versprechen nicht vergessen, aber … er ist ein Junge!
Ich weiß schon, dass ich sehr früh dran bin. Noch keine fünfzehn und schon so selbstständig, das ist für andere wohl unbegreiflich. Ich bin mir fast sicher, dass Margot niemals einem Jungen einen Kuss geben würde, ohne dass auch von Verloben oder Heiraten die Rede ist. Solche Pläne haben weder Peter noch ich. Auch Mutter hat vor Vater sicher keinen Mann berührt. Was würden meine Freundinnen dazu sagen, wenn sie wüssten, dass ich in Peters Armen lag, mit meinem Herzen auf seiner Brust, mit meinem Kopf auf seiner Schulter, mit seinem Kopf und Gesicht auf dem meinen!
O Anne, wie skandalös! Ich finde es aber wirklich nicht skandalös. Wir sind hier eingesperrt, abgeschlossen von der Welt, immer in Angst und Sorge, ganz besonders in der letzten Zeit. Warum sollten wir, die einander lieben, uns dann voneinander fern halten? Warum sollten wir uns in diesen Zeiten keinen Kuss geben? Warum sollten wir warten, bis wir das passende Alter haben? Warum sollten wir viel fragen?
Ich habe es auf mich genommen, selbst auf mich aufzupassen. Er würde mir nie Kummer oder Schmerz zufügen wollen. Warum sollte ich dann nicht tun, was mir das Herz eingibt, und uns beide glücklich machen?
Doch ich glaube, Kitty, dass du ein bisschen von meinen Zweifeln merkst. Ich denke, dass es meine Ehrlichkeit ist, die sich gegen Heimlichkeiten auflehnt. Findest du, dass es meine Pflicht wäre, Vater zu erzählen, was ich tue? Findest du, dass unser Geheimnis einem Dritten zu Ohren kommen soll? Von dem, was schön ist, würde viel verloren gehen. Und würde ich dadurch innerlich ruhiger werden? Ich werde mit ihm darüber sprechen.
O ja, ich will über so viel mit ihm sprechen, denn nur miteinander schmusen, darin sehe ich keinen Sinn. Es gehört viel Vertrauen dazu, einander die Gedanken zu erzählen, aber sicher werden wir beide stärker im Bewusstsein dieses Vertrauens.
Deine Anne M. Frank
P.S. Gestern Morgen waren wir schon wieder um sechs Uhr auf den Beinen, da die ganze Familie Einbruchgeräusche gehört hatte. Vielleicht ist diesmal ein Nachbar das Opfer geworden. Bei der Kontrolle um sieben Uhr waren unsere Türen fest verschlossen, zum Glück.
Dienstag, 18. April 1944
Liebe Kitty!
Hier ist alles gut. Gestern Abend war der Zimmermann wieder da und hat angefangen, eiserne Platten vor die Türfüllungen zu schrauben.
Vater hat gerade gesagt, dass er vor dem 20. Mai noch ganz groß angelegte Operationen erwartet, sowohl in Russland als auch in Italien und im Westen. Ich kann mir die Befreiung aus unserer Lage immer weniger vorstellen, je länger es dauert.
Gestern sind Peter und ich dann endlich zu unserem Gespräch gekommen, das mindestens schon zehn Tage verschoben worden ist. Ich habe ihm alles von den Mädchen erklärt und mich nicht gescheut, die intimsten Dinge zu besprechen. Ich fand es allerdings witzig, dass er dachte, dass sie den Eingang bei Frauen auf Bildern einfach wegließen. Er konnte sich also nicht vorstellen, dass das wirklich zwischen den
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