Tagebuch (German Edition)
drei) nicht stören kann, musst du jetzt mit einem Bleistiftbrief vorlieb nehmen.
Ich habe im Augenblick schrecklich viel zu tun, und so verrückt es auch klingt, ich habe zu wenig Zeit, um durch meinen Berg Arbeit durchzukommen. Soll ich dir erzählen, was ich alles tun muss? Also: Bis morgen muss ich den ersten Teil der Lebensgeschichte von Galileo Galilei auslesen, da das Buch zur Bibliothek zurück muss. Gestern habe ich damit angefangen, jetzt bin ich auf Seite 220. Es hat 320, also schaffe ich es. Nächste Woche muss ich »Palästina am Scheideweg« und den zweiten Teil von Galilei lesen. Außerdem habe ich den ersten Teil der Biographie von Kaiser Karl V. ausgelesen und muss dringend meine vielen Notizen und Hinweise auf die Stammbäume ausarbeiten. Und dann habe ich auch drei Seiten mit Fremdwörtern aus den verschiedenen Büchern herausgeholt, die alle eingeschrieben, aufgesagt und gelernt werden müssen. Nr. 4 ist, dass meine Filmstars schrecklich ungeordnet sind und nach Aufräumen schreien. Da das aber mehrere Tage in Anspruch nehmen würde und Professor Anne im Augenblick, wie schon gesagt, in Arbeit erstickt, wird das Chaos weiter ein Chaos bleiben. Dann warten Theseus, Ödipus, Peleus, Orpheus, Jason und Herkules auf ein gründliches Ordnen, da ihre verschiedenen Taten wie bunte Fäden in meinem Kopf durcheinander liegen. Auch Mykon und Phidias bedürfen dringend einer Behandlung, damit ihr Zusammenhang erhalten bleibt. Ebenso geht es z.B. mit dem Sieben- und dem Neunjährigen Krieg. Ich werfe auf diese Weise alles durcheinander. Ja, was soll man auch mit so einem Gedächtnis anfangen? Stell dir mal vor, wie vergesslich ich erst mit achtzig sein werde! Ach ja, noch was, die Bibel! Wie lange wird es wohl noch dauern, bis ich zu der Geschichte von der badenden Susanne komme? Und was war die Schuld von Sodom und Gomorrha? Ach, es gibt noch so schrecklich viel zu fragen und zu lernen! Und Lieselotte von der Pfalz habe ich ganz im Stich gelassen!
Kitty, siehst du, dass ich überlaufe?
Nun etwas anderes: Du weißt längst, dass es mein liebster Wunsch ist, einmal Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Ob ich diese größenwahnsinnigen (oder wahnsinnigen) Neigungen je ausführen kann, das wird sich noch zeigen müssen, aber Themen habe ich bis jetzt genug. Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem Titel »Das Hinterhaus« herausgeben. Ob mir das gelingt, ist auch die Frage, aber mein Tagebuch wird mir als Grundlage dienen können.
Cadys Leben muss auch fertig werden. Ich habe mir die Fortsetzung so gedacht, dass Cady nach ihrer Genesung das Sanatorium verlässt und mit Hans in Briefwechsel bleibt. Das ist 1941. Bald entdeckt sie dann, dass Hans zur NSB [15] neigt, und da Cady mit den Juden und ihrer Freundin Marianne großes Mitleid hat, entsteht eine Entfremdung zwischen ihnen. Nach einem Treffen, bei dem sie sich erst wieder versöhnt hatten, kommt es zum Bruch, und Hans bekommt ein anderes Mädchen. Cady ist tief gebrochen und wird, um eine richtige Arbeit zu haben, Krankenschwester. Auf Drängen von Freunden ihres Vaters geht sie in die Schweiz, um dort in einem Lungensanatorium zu arbeiten. In ihrem ersten Urlaub fährt sie zum Comer See, wo sie zufällig Hans trifft. Er erzählt ihr, dass er vor zwei Jahren geheiratet hat, Cadys Nachfolgerin, dass sich seine Frau aber in einem Anfall von Schwermut das Leben genommen hat. An ihrer Seite hat er erst gemerkt, wie sehr er Cady geliebt hatte, und nun hält er aufs Neue um ihre Hand an. Cady lehnt ab, obwohl sie ihn, gegen ihren Willen, immer noch liebt. Ihr Stolz hält sie zurück. Hans zieht daraufhin weg, und Jahre später hört Cady, dass er, mehr krank als gesund, in England gelandet ist.
Cady selbst heiratet mit 27 Jahren einen wohlhabenden Landbewohner, Simon. Sie fängt an, ihn sehr zu lieben, aber doch nie so sehr wie Hans. Sie bekommt zwei Töchter und einen Sohn, Lilian, Judith und Nico. Simon und sie sind glücklich miteinander, aber immer bleibt Hans im Hintergrund von Cadys Denken, bis sie eines Nachts von ihm träumt und Abschied von ihm nimmt.
Das ist kein sentimentaler Unsinn, denn Vaters Lebensroman ist darin verarbeitet.
Deine Anne M. Frank
Samstag, 13. Mai 1944
Liebste Kitty!
Gestern hatte Vater Geburtstag, und Vater und Mutter waren 19 Jahre verheiratet. Es war kein Putzfrau-Tag, und die Sonne schien, wie sie 1944 noch nie geschienen hat. Unser Kastanienbaum steht von unten
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