Tagebuch (German Edition)
über sie spricht, dann ist er liebevoll. Wenn er Kartoffeln oder andere schwere Sachen trägt, dann ist er stark. Wenn er bei einer Schießerei oder im Dunkeln nachschaut, ob Diebe da sind, dann ist er mutig. Und wenn er so unbeholfen und ungeschickt tut, dann ist er eben lieb. Ich finde es viel schöner, wenn er mir was erklärt, als wenn ich ihm was beibringen muss. Ich hätte es so gerne, dass er mir in fast allem überlegen wäre.
Die Mütter können mir egal sein. Wenn er nur sprechen würde!
Vater sagt immer, dass ich eine Zierpuppe bin, aber das ist nicht wahr. Ich bin nur eitel. Bis jetzt haben mir noch nicht viele Leute gesagt, dass sie mich hübsch finden, außer ein Junge aus der Schule, der sagte, dass ich so nett aussehe, wenn ich lache. Gestern bekam ich ein richtiges Kompliment von Peter, und ich will dir zum Spaß unser Gespräch so ungefähr wiedergeben.
Peter sagte so oft: »Lach mal!«
Das fiel mir auf, und ich fragte gestern: »Warum soll ich immer lachen?«
»Weil das hübsch ist. Du bekommst dann Grübchen in die Wangen. Wie kommt das eigentlich?«
»Damit bin ich geboren, im Kinn habe ich ja auch eins. Das ist auch das einzig Schöne, das ich habe.«
»Aber nein, das ist nicht wahr!«
»Doch. Ich weiß, dass ich kein hübsches Mädchen bin. Das bin ich nie gewesen und werde es auch nie sein!«
»Das finde ich überhaupt nicht. Ich finde dich hübsch.«
»Das ist nicht wahr.«
»Wenn ich das sage, kannst du es mir glauben.«
Ich sagte dann natürlich dasselbe von ihm.
Deine Anne M. Frank
Mittwoch, 29. März 1944
Liebe Kitty!
Gestern Abend sprach Minister Bolkestein im Sender Oranje darüber, dass nach dem Krieg eine Sammlung von Tagebüchern und Briefen aus dieser Zeit herauskommen soll. Natürlich stürmten alle gleich auf mein Tagebuch los. Stell dir vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman vom Hinterhaus herausgeben würde. Nach dem Titel allein würden die Leute denken, dass es ein Detektivroman wäre.
Aber im Ernst, es muss ungefähr zehn Jahre nach dem Krieg schon seltsam erscheinen, wenn erzählt wird, wie wir Juden hier gelebt, gegessen und gesprochen haben. Auch wenn ich dir viel von uns erzähle, weißt du trotzdem nur ein kleines bisschen von unserem Leben. Wie viel Angst die Damen haben, wenn bombardiert wird, wie zum Beispiel am Sonntag, als 350 englische Maschinen eine halbe Million Kilo Bomben auf Ijmuiden abgeworfen haben, wie die Häuser dann zittern wie Grashalme im Wind, wie viele Epidemien hier herrschen …
Von all diesen Dingen weißt du nichts, und ich müsste den ganzen Tag schreiben, wenn ich dir alles bis in die Einzelheiten erzählen sollte. Die Leute stehen Schlange für Gemüse und alle möglichen anderen Dinge. Die Ärzte kommen nicht zu ihren Kranken, weil ihnen alle naselang ihr Fahrzeug gestohlen wird. Einbrüche und Diebstähle gibt es jede Menge, sodass man anfängt, sich zu fragen, ob etwas in die Niederländer gefahren ist, weil sie plötzlich so diebisch geworden sind. Kleine Kinder von acht bis elf Jahren schlagen die Scheiben von Wohnungen ein und stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist. Niemand wagt, seine Wohnung auch nur für fünf Minuten zu verlassen, denn kaum ist man weg, ist der Kram auch weg. Jeden Tag stehen Anzeigen in der Zeitung, die eine Belohnung für das Wiederbringen von gestohlenen Schreibmaschinen, Perserteppichen, elektrischen Uhren, Stoffen usw. versprechen. Elektrische Straßenuhren werden abmontiert, die Telefone in den Zellen bis auf den letzten Draht auseinander genommen. Die Stimmung unter der Bevölkerung kann nicht gut sein, jeder hat Hunger. Mit der Wochenration kann man keine zwei Tage auskommen (außer mit dem Ersatzkaffee). Die Invasion lässt auf sich warten, die Männer müssen nach Deutschland. Die Kinder sind unterernährt und werden krank, und alle haben schlechte Kleidung und schlechte Schuhe. Eine Sohle kostet »schwarz« 7.50 Gulden. Dabei nehmen die meisten Schuhmacher keine Kunden mehr an, oder man muss vier Monate auf die Schuhe warten, die dann inzwischen oft verschwunden sind.
Ein Gutes hat die Sache, dass die Sabotage gegen die Obrigkeit immer stärker wird, je schlechter die Ernährung ist und je strenger die Maßnahmen gegen das Volk werden. Die Leute von der Lebensmittelzuteilung, die Polizei, die Beamten, alle beteiligen sich entweder dabei, ihren Mitbürgern zu helfen, oder sie verraten sie und bringen sie dadurch ins Gefängnis. Zum Glück steht nur ein kleiner
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