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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Bühne: Er adelt sein Thema wie auch sein Publikum.
    Die Krankheit hat mich zur Wunschlosigkeit erzogen … und zweifellos ist die künstliche Spannung, die die Menschen unserer Zeit nach Abenteuern jagen lässt, etwas vollkommen Unfruchtbares und Gezwungenes. Der Körper, die Natur sind, was die Sexualität betrifft, viel bescheidener und vielleicht auch inniger, als wir im erregten Konkurrenzkampf glauben wollen. Man werfe nur einen Blick auf die starken und schönen Tiere, wie bescheiden sie in der Liebe sind! Und welch ein seltenes, wildes Fest die Paarung für sie ist! Nur der Mensch frisst sich über seine natürlichen Bedürfnisse hinaus am Fleisch satt – nicht er ist es, der liebt, sondern seine Eitelkeit.
    In einem Hotelzimmer auf der Margareteninsel im dritten Stock. Wie oft habe ich hier gewohnt, in jedem Alter, bei jeder Stimmung! Im Moment krank, aber – wie Montherlant sagt – wie ein Kranker, der die Krankenschwester am Morgen schon mit der Miene eines Piraten erwartet.
    Vor dem Fenster eine Eiche, deren Krone das Dach des dreistöckigen Gebäudes weit überragt. Die Sonne scheint, und der Wind treibt im späten Mai die Donau vor sich her. Zum ersten Mal seit Monaten habe ich wieder das Gefühl, dass die Arbeit interessant ist und sich lohnt.
    Ich habe Gides Autobiografie beendet. Gide ist mehr als sein Werk. Sein Leben und sein Verhalten sind von bleibender Wirkung. Die Wirkung seines Werkes ist uneinheitlich, relativ – so mein Eindruck. Aber eine so präzise, musikalische Prosa wie manche Kapitel in Si le grain … hat es in der französischen Sprache seit Bossuet nicht mehr gegeben. Und die letzten Zeilen seines Tagebuchs, als der siebzigjährige Wanderer – nach dem Tod seiner Frau und ein paar Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – wieder einmal in die Welt hinauszieht, rühren mich zu Tränen. »Ich bin entsetzlich frei …«, schreibt er.
    Rilkes Prosa.
    Wie muskulös, wie sehnig diese Prosa ist! Wie hart sie ist! Er nennt alles beim Namen, weil er ein Dichter ist; er schreibt auch seine Prosa mit jener letzten Präzision, mit der sich nur ein Dichter den Phänomenen nähern kann. Er schreibt über Gerüche, und es wird einem tatsächlich schlecht, als stünde man eines Augustnachmittags mitten in einer an ihrem eigenen Gestank verrottenden Menschenmenge. Er schreibt über den Tod wie ein Arzt, der den Vorgang kennt, und wie ein Heiliger, der auch weiß, was auf den Vorgang folgt.
    Wie erschreckend logisch seine Überleitungen, seine Themenwechsel sind – nicht die Themen knüpfen aneinander an, sondern der innere Zusammenhang der Phänomene der Welt verleiht allem, was er anfasst, inneren Halt und Kohärenz.
    Das Spiel des Windes, des Wassers vor dem Fenster. Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, als könne ich die Bewegungen des Weltmechanismus sehen – als durchströmten der Wind, das Wasser, das Licht auch mich. Ist es das, was das Leben später mit sich bringt? Was erwartet mich, wenn ich alt bin? Ich vermute, es wird großartig sein, alt zu werden. Alles wird dicht und komprimiert, ganz süß und ganz bitter sein.
    Wilder Wind im späten Mai, bleierner Regen. Ich spüre es immer unmittelbarer, mit jedem Jahr mehr, dass ich gegen einen gewaltigen Bruder ankämpfe, die Natur. Sie ist stärker als ich, und was ich für eine Stimmung, eine nervöse Befindlichkeit halte – ist wieder einmal ein nicht zu parierender Kinnhaken dieses mächtigen Champions.
    Nacht für Nacht erwarten wir die Luftangriffe. Man trägt sein Schicksal, plötzlich ganz klein, gleichsam in einer Handtasche bei sich – wir tragen es in unserer linken Hand überallhin mit.
    Vielleicht das Größte und Beste, was eine Frau geben kann: ein selbstvergessenes Lächeln, auf der Straße, im Restaurant, im Vorbeigehen. Alles andere ist nur: Geschäft, Zweikampf, Aktion.
    Arme Jugend! Immerzu lebt sie in der Zukunft.
    Jeden Augenblick hat sie das Gefühl, aus dem Augenblick hinausspringen und weitereilen zu müssen, der Zukunft entgegen, die sie sonst verpassen würde … Aber mit der Zeit lernen wir, dass es im Leben auch etwas Spannenderes als die Zukunft gibt. Die Gegenwart.
    Das Geschenk des alternden Menschen ist die Gegenwart. Wenn man die Gegenwart entdeckt, wird man mit einem Schlag reich. Und das kann uns niemand nehmen.
    Kosztolányis Gesammelte Novellen . Was wirft ein Schriftsteller in fünfzig Jahren nicht alles weg, beiläufig, leichtfertig, in der Eile! Niemand ist so verschwenderisch wie

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