Tagebücher 01 - Literat und Europäer
zögern, wenn die Zeit des Handelns gekommen ist.
In der Nacht las ich wieder Romeo und Julia – in der Übersetzung von Kosztolányi. Die Übersetzung ist holprig, stellenweise lahm. Kosztolányis barocke Verssprache wird dem brausenden Pathos Shakespeares nicht gerecht. Vörösmarty war der einzige ungarische Dichter, dessen Sprache den Shakespeareschen Schwung und Strom wiedergeben konnte; wie schade, dass ihm die Lust und Leidenschaft dazu fehlte und er des Englischen kaum mächtig war! Aranys Hamlet und Sommernachtstraum sind stellenweise nur lyrisch. Und auch heute haben wir keinen Shakespeare-Übersetzer. Kosztolányi flötet nur, wo Shakespeare seinen Richterspruch über die Erde und das All fällt.
Shakespeare kannte die »Regeln der Dramaturgie« nicht. Er schuf aus dem Nichts, komprimierte eine Handlung aus der Urmaterie und brachte sie – soweit möglich – auf einer Bühne unter. Freilich waren auch das Fassungsvermögen, das Publikum und die Schauspieler des Globe Theatre nicht mit den »Regeln der Dramaturgie« vertraut. Sie trafen einfach alle im Willen eines Genies zusammen, die Bühne, die Schauspieler und das Publikum.
Shakespeares Helden sterben oft weniger vor Gram als vor rasendem Zorn, vor kindischer, ohnmächtiger Wut. Wie so oft die Menschen im echten Leben.
Der Omnibus fuhr los, und ich lief ihm, meine Lahmheit vergessend, drei Schritte hinterher. Der Schmerz brachte mich gleich zum Stehen; die geschädigten Nerven riefen mir in Erinnerung, dass ich lahm bin oder jedenfalls halb lahm, ein am Stock gehender, sich Schritt für Schritt vorwärts schleppender Patient, der froh sein muss, wenn er langsam von einer Straßenecke zur anderen humpeln kann. Letztes Jahr um die Zeit spielte ich noch Tennis … Ich gab mir Mühe, diese unerbittliche Pädagogik zu begreifen und widerspruchslos zu erdulden.
Der wahre Held in Shakespeares Tragödie ist nicht der alte Cäsar, der den Tod vielleicht schon sucht, nicht der »Verräter« Brutus, der feinfühlige Aristokrat, der seinen Dolch wider besseres Wissen ins Herz seines Gönners senkt, sondern der glatte, hinterlistige Antonius, der jede Befähigung zur Macht, nur keinen Wirklichkeitssinn besitzt.
Der Schriftsteller bewahre in dieser zögerlichen, anklagenden, mordenden Welt seine Unparteilichkeit; er druckse nicht herum; klage nicht an; sticht der Meuchelmörder mit seinem Dolch nach ihm, verdecke er sein Gesicht mit seiner Hand, mit einer stummen Geste. Gegen die revoltierende Zeit bleibt uns kein anderes Mittel, als Haltung zu wahren.
Wer beleidigt ist, erliegt schon einer Strategie.
Das Wintermärchen , wiederum in Kosztolányis Übersetzung, die diesmal ungleich besser als sein Übersetzungsversuch von Romeo und Julia ist; vielleicht weil dieses Drama wirklich ein Märchen ist, eine lyrische Erzählung von Königen, Schäfern, verzauberten Menschen. Diesen klingenden Märchenton beherrscht der Übersetzer aus voller Brust. Aber dort, wo der Shakespearesche Sturm losbricht, geht Kosztolányi die Puste aus.
Das Drama, in dem Böhmen am Meer liegt und die Eifersucht eines monomanen Königs eine Reihe märchenhafter Missverständnisse auslöst, das Drama, dem die Shakespeare-Interpreten seit dreihundertvierzig Jahren jede Dramatik absprechen und das auf der Bühne – allen »dramaturgischen Regelwidrigkeiten« zum Trotz – noch heute so viel Zauber versprüht wie eine Frühlingslandschaft. Nein, Shakespeare ist zweifellos nicht dann am größten, wenn er »konstruiert« oder wenn er »Typen schafft«. Er ist dann am größten, wenn er ein Dichter ist. Shakespeare ist die Sprache, das Gefühl, das Wort. Dieses sanftmütig abgerundete Hirtenlied begeistert den Leser und Zuschauer nicht durch seine »Handlung« oder seine »Struktur« immer wieder aufs Neue, sondern durch seinen Tonfall, seinen Duft, seine Worte, seine Dichtung. Wir erahnen den Ausgang, das Ende … und sehnen diesen naiven Ausgang dennoch pochenden Herzens herbei. Im Ebenmaß des Märchens, in der Versöhnung und dem Zusammenfinden der Jungen und der Alten entdecken wir eine uralte Harmonie, die mehr ist als jede ausgeklügelte und versponnene dramatische Handlung … Dramatiker, bleibe stets ein Dichter, selbst »auf Kosten der Spannung«. Shakespeare musste auf das Publikum des Globe Theatre schließlich genauso Rücksicht nehmen wie die Theaterleute von heute. Und er nahm auf sie Rücksicht und adelte sie durch seine Dichtung. Der Dichter ist ein Souverän, auch auf der
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