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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Gespenster der Vergangenheit sind nach wie vor da: Der Schieber, der Neureiche, die Kokotte schwimmen fröhlich im blutigen Schmutzwasser, fressen die Abfälle des Krieges. Nichts hat sich geändert, nur das Leiden ist universeller, die Grausamkeit tiefer und erfindungsreicher geworden.
    Nach zweiwöchigem Aufenthalt auf der Insel fährt mich das Taxi vom Hotel nach Hause zurück, und das Erlebnis dieser Taxifahrt ist fast so großartig, als hätte ich diese zwei Wochen nicht an einem anderen Punkt der Stadt, sondern fünfhundert Kilometer entfernt verbracht. Die Entfernung ist in uns, die Landkarte und die Erde sind bloße Zugaben.
    Les Châtiments , die Gedichte Victor Hugos aus der Emigration – eine klein gedruckte Ausgabe von 1853, aus den ersten Jahren seines Exils, datiert aus Genf und New York und mit einem Anhang versehen, der einen Auszug aus dem Protokoll jener denkwürdigen Parlamentssitzung von 1849 beinhaltet, bei der sich Hugo zum ersten Mal gegen Napoleon III. ereiferte, der damals noch das Amt des Präsidenten bekleidete und einen kaiserlichen Staatsstreich vorbereitete.
    Wie viel Leidenschaft in diesen klein gedruckten Zeilen steckt! Wie viele berechtigte Vorwürfe der Blutschuld gegen den »Mörder«, den »Despoten«, den »loyale Patrioten und Republikaner« massenweise niedermetzelnden und zugleich träumerischen, blauäugigen und dickwanstigen, vermutlich deutschstämmigen Bastard Louis Beauharnais … der in der Tat ein Mörder und ein Blutsauger und ein außergewöhnlich feinsinniger, verträumter, das Wohl der Arbeiter wünschender, talentierter Mensch war. Und wie recht hat Hugo in Châtiments , wenn er das Blut des Despoten fordert, und wie recht hatte Napoleon III., als er Frankreich während der Zweiten Republik zwei Jahrzehnte Frieden, Glanz, Fortschritt und Ordnung bescherte … Wie recht hat der Verbannte, wenn er aus London und Brüssel Rechte und Freiheit fordert, und wie recht hatte – aus der Distanz von hundert Jahren betrachtet – der, der ihn verbannte. Und wie schnell stürzte der Despot, und wie lange lebte noch der aus dem Exil Heimgekehrte, und was erlebte er nicht noch alles! Den Sturz des Despoten, der damals mit Sedan gleichbedeutend war, die Pariser Kommune, die mit der Verhöhnung der edelsten Revolutionsideen gleichbedeutend war, den Sturz der Kommune und die Schreckensherrschaft der rachsüchtigen Bourgeoisie … und er erlebte, dass er, der Verbannte von einst, das alles mit der Souveränität eines Methusalems überlebt, überschreibt, überprophezeit! … Wie wunderbar ist doch das Leben und wie großartig und erbärmlich der Mensch, in seiner Schuld und seinem Recht, seinen Beschuldigungen und seinen grotesken Vergeltungen! Das Büchlein ist erschreckend zeitgemäß: Der Mensch kopiert und wiederholt mit der Zeit alle seine Sünden, Irrtümer, Verbrechen und Rufe nach Vergeltung mit geradezu manischer Konsequenz.
    Der Geschichte fehlt es an Phantasie.
    Nicht nur Dichter werden inspiriert, zuweilen werden ganze Generationen gemeinsam inspiriert. Diese überpersönliche Inspiration ganzer Generationen ist ein internationales Phänomen am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. In der ungarischen Literatur ist es derselbe gemeinsame Elan, der die Generation Petőfis, Aranys und Vörösmartys und am Anfang dieses Jahrhunderts die Generation von Nyugat beseelt.
    Dann wiederum, so auch heute, bleibt dieser oder jener Dichter ein Einsamer. Seine Generation hat keine Inspiration. Und er hofft allein auf die Gnade und die himmlische Stimme. Das ist ein schweres Los.
    Glück ist eine Frage der Disziplin.
    Was Ortega y Gasset am Anfang des Jahrhunderts in Spanien vermisste – neben geistigen Einzelphänomenen einen »neuen Adel«, ein »geistiges Rückgrat« für die Nation –, dieses Rückgrat fehlt heute ganz Europa.
    Macbeth ist auch als Drama vollkommen, und die wenigen schönen, aber allzu literarischen Tiraden – der Dolchmonolog, Lady Macbeths Selbstermunterungen – hängen heraus wie Spruchbänder aus dem Mund der Heiligen auf mittelalterlichen Heiligenbildern. Es ist jenes Drama Shakespeares, in dem er wirklich »komponiert«, die Bühne stets im Blick hat, mit aller Kraft verdichtet, die Szenen bis zum Rand mit dramatischem Stoff füllt.
    Als Duncan, der König, die Bühne betritt und sich im Plauderton erkundigt: »Ist Cawdor schon hingerichtet? …«, blicken wir in andächtigem Staunen auf die Szenerie. Nur Shakespeare, niemand sonst in der Weltliteratur,

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