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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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kahlköpfig, mit slowakischem Schnurrbart und Sandalen, und weise und geschwätzig, affektiert und in lyrischer Ekstase Bettelbriefe und an Halbwüchsige gerichtete wilde Poeme kritzelt, ein wildes Genie des Asphalts und der Zivilisation, eher wild als genial und eher zivilisiert als wild. Die Wirkung solcher Schriften muss durch die Persönlichkeit verbürgt sein. Peter Altenberg ist gestorben, und im Augenblick seines Todes ist auch schon die Poesie seiner Bücher verflogen. Er gehört zu den Schriftstellern, die ständig persönlich für die Glaubwürdigkeit ihrer Werke bürgen müssen. Wenn sie sterben, gibt es keinen mehr, der für ihre Werke einsteht und Zeugnis ablegt.
    Der erste Sommertag. Glück, Frieden, Versöhnlichkeit machen sich in der Welt und in mir breit. Vor einigen Jahren wäre ich vor der Hitze noch geflohen, jetzt – anscheinend kühle auch ich schon ab wie die unbewohnten Planeten – sehne ich bibbernd und gierig jeden Sonnenstrahl herbei. In der Sonne leben, in der Sonne sterben, zurückkehren in die Sonne, von der wir einst abgefallen sind, im Lichte beenden, was im Licht begann, ein winziger Punkt, einen Punkt setzen.
    In der Festausgabe einer Zeitschrift lese ich erstaunt, der Schriftsteller X . sei verliebt.
    Der Schriftsteller teilt der Welt diese Hiobsbotschaft selbstverständlich in literarischer Form mit. Meine erste Empfindung bei der Lektüre ist mitmenschliche Solidarität: Wenn sich alle Schriftsteller zusammenschließen und eine Proklamation herausgeben könnten, in der sie den unwürdigen Angriff auf ihren Schriftstellerkollegen zu ihrer eigenen Angelegenheit erklärten … Wenn wir eine Spendensammlung einleiten, der Frau das Geld überreichen und sie auf eine längere Auslandsreise schicken würden … könnten wir ihn vielleicht noch retten.
    Aber ich weiß aus Erfahrung, dass in solchen Situationen jede Hilfe von außen hoffnungslos ist. Wir, Schriftsteller wie Leser, müssen uns darauf gefasst machen, Augenzeugen des dramatischen Zwischenspiels, der Liebesaffäre des Schriftstellers X ., zu werden; und die letzte Konsequenz dieses Zwischenspiels wird ein Buch sein – ein Buch, in dem der Schriftsteller seiner Geliebten erklärt, warum er sie verlassen hat. Ich habe es auch so gemacht.
    Ich lese den Gedichtband des Tausendsassas Henry de Montherlant – Encore un instant de bonheur – und kann mich anhand dieses Bandes davon überzeugen, dass Apollinaire wirklich ein guter Dichter war.
    Der Redakteur eines Klatschblattes dringt in meine Wohnung ein, und nachdem er mir sein Ehrenwort gegeben hat, dass er kein Wort unseres erzwungenen Gesprächs in seinem Blatt veröffentlichen wird, macht er sich natürlich umgehend daran und veröffentlicht alles, überzogen und ungenau. Die Lehre daraus: 1. ich kenne die Menschen noch immer nicht; 2. ich bin noch immer zu höflich zu ihnen; 3., und das ist das Wichtigste: ich habe noch immer nicht gelernt, gnadenlos zu schweigen. Eine gute Lehre, ich werde sie fortan beherzigen.
    Auf der Margareteninsel knospen jetzt scharenweise die Rosen. Ich durchquere den Rosengarten, nervös wie jemand, der vor aufdringlichen Leuten auf der Flucht ist. Eine einzelne Rose, ja – das ist die Schönheit auf Erden. Aber zehntausend Rosen, in massenhafter, schwüler Zurschaustellung, das ist die Langeweile auf Erden. Jede Übertreibung ist langweilig.
    Der Regen treibt mich in den geschmacklos-luxuriösen, marmorgetäfelten Salon des großen Hotels. Im vormittäglichen Lampenschein wimmelt es in dieser Arche Noah der neuerlichen Sintflut von den üblichen Gestalten jedes zu Ende gehenden Krieges: der Schieber, die Frau im Silberfuchs, deren Gunst die Kriegsparvenüs mangels anderer günstig zu habender Rohstoffe wie üppig verteiltes Papiergeld kaufen, der Mittelsmann eines vornehmen Herrn, der in einer Ecke mit dem Schieber plaudert und paktiert … All das ist mir entsetzlich vertraut: Ich habe es 1919 im Foyer des Grand-Hotels in Wien schon einmal erlebt. Sie senken nicht einmal die Stimme, reden ganz ungezwungen über Lei, Schweizer Franken, Dreschmaschinen, Dokumente und Ausreisevisa, konsularische Beziehungen, Öl, in einem jämmerlichen Jargon, stets mitten im Geschehen und stets darüber stehend, schwimmend und schnaubend wie Wale inmitten von U-Booten … Die fromme Masse mag vielleicht noch glauben, dass sich tatsächlich etwas »Neues« in der Welt ereignet, dass der Faschismus, der Nationalsozialismus die Menschen verändert hätte. Aber die

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