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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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dem Wall. Trauriger verlassener Mann auf einer Bank. Leben auf dem Sportplatz. Stiller Platz, Menschen vor allen Türen auf Stufen und Steinen. Morgen vom Fenster aus, Ausladen der Hölzer aus einem Segelboot. Dr. W. am Bahnhof. Nicht mehr aufhörende Ähnlichkeit mit Löwy. Entschlußunfähigkeit wegen Gleschendorf. Essen in der Hansa-Meierei. “Errötende Jungfrau”. Einkaufen des Nachtmahls. Telephonisches Gespräch mit Gleschendorf. Fahrt nach Marienlyst. Trajekt. Geheimnisvolles Verschwinden eines jungen Mannes mit Regenmantel und Hut und geheimnisvolles Wiederauftauchen beider. Fahrt im Wagen von Vaggerlese nach Marienlyst.

    28. (Juli 1914) Verzweifelter erster Eindruck der Einöde, des elenden Hauses, des schlechten Essens ohne Obst und Gemüse, der Streitigkeiten zwischen W. und H. Entschluß nächsten Tag wegzufahren, Kündigung. Bleibe doch. Vorlesung des Überfalls, meine Unfähigkeit zuzuhören, mitzugenießen, zu urteilen. Die Redeimprovisationen des W. Für mich Unerreichbares. Der Mann, der mitten im Garten schreibt, dickes Gesicht, schwarzäugig gefettetes langes glattzurückgestrichenes Haar. Starre Blicke, Augenzwinkern, rechts und links. Die Kinder, unbeteiligt, sitzen wie Fliegen um seinen Tisch. –
      – Meine Unfähigkeit zu denken, zu beobachten, festzustellen, mich zu erinnern, zu reden, mitzuleben wird immer größer, ich versteinere, ich muß das feststellen. Meine Unfähigkeit wird sogar im Bureau größer. Wenn ich mich nicht in einer Arbeit rette, bin ich verloren. Weiß ich das so deutlich, als es ist? Ich verkrieche mich vor Menschen nicht deshalb, weil ich ruhig leben, sondern weil ich ruhig zugrunde gehen will. Ich denke an die Strecke, die wir, Erna und ich, von der Elektrischen zum Lehrter Bahnhof gingen. Keiner sprach, ich dachte an nichts anderes, als daß jeder Schritt ein Gewinn für mich sei. Und E. ist lieb zu mir; glaubt sogar unbegreiflicher Weise an mich, trotzdem sie mich vor dem Gericht gesehen hat; ich fühle sogar hie und da die Wirkung dieses Glaubens an mich, ohne diesem Gefühl allerdings ganz zu glauben. Das erste Leben, das seit vielen Monaten Menschen gegenüber in mir war, fühlte ich der Schweizerin im Coupe gegenüber, bei der Rückfahrt von Berlin. Sie erinnerte an G. W. Einmal rief sie sogar: Kinder! – Kopfschmerzen hatte sie, so plagte sie das Blut. Häßlicher, ungepflegter kleiner Körper, schlechtes billiges Kleid aus einem Pariser Warenhaus. Sommersprossen im Gesicht. Aber kleine Füße, ein trotz Schwerfälligkeit infolge seiner Kleinheit ganz beherrschter Körper, runde feste Wangen, lebendiger nie verlöschender Blick.

    Das jüdische Ehepaar, das neben mir wohnte. Junge Leute, beide schüchtern und bescheiden, ihre große Hakennase und der schlanke Leib, er schielte ein wenig, war blaß, untersetzt und breit, in der Nacht hustete er ein wenig. Sie gingen oft hintereinander. Blick auf das zerworfene Bett in ihrem Zimmer. – Dänisches Ehepaar. Er oft sehr korrekt im Jakett, sie braun gebrannt, schwaches aber grob gefügtes Gesicht. Schweigen viel, sitzen manchmal nebeneinander, die Gesichter schief nebeneinander gestellt wie auf Gemmen. – Der freche schöne Junge. Raucht immer Cigarette. Sieht H. frech, herausfordernd, bewundernd, spöttisch und verächtlich an, alles in einem Blick. Manchmal beachtet er sie überhaupt nicht. Verlangt ihr stumm eine Cigarette ab. Bietet ihr nächstens von der Ferne eine an. Hat zerrissene Hosen. Will man ihn durchprügeln, so muß man es in diesem Sommer tun, im nächsten prügelt er schon selbst. Faßt alle Stubenmädchen streichelnd am Arm, aber nicht demütig, nicht verlegen, sondern wie irgendein Lieutenant, der mit Rücksicht auf seine vorläufige Kindsgestalt in manchem mehr wagen kann als später. Wie er beim Essen einer Puppe den Kopf mit dem Messer abzuhacken droht. – Lancier. Vier Paare. Bei Lampenlicht und Grammophonspiel im großen Saal. Nach jeder Figur eilt ein Tänzer zum Grammophon und legt eine neue Platte ein. Insbesondere von Seite der Herren korrekt, leicht und ernsthaft ausgeführter Tanz. Der lustige rotbackige, weltmännische, dessen sich wölbendes steifes Hemd seine breite hohe Brust noch höher machte – der unbekümmerte, bleiche, über allen stehende, mit allen spaßende; Bauchansatz; helles schlotterndes Kleid; viele Sprachen; las die “Zukunft” – der kolossale Vater der kropfigen, fauchenden Familie, die man an ihrem schweren Atem und den Kinderbäuchen erkannte; er

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