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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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    Heft 6
    6 Mai 1912 11 Uhr zum erstenmal seit einiger Zeit
    vollständiges Mißlingen beim Schreiben. Das Gefühl eines geprüften Mannes.
    Traum vor kurzem: Ich fuhr mit meinem Vater durch Berlin in der Elektrischen. Das Großstädtische war vorgestellt von unzähligen regelmäßig aufrechtstehenden
    zweifarbig
    gestrichenen, am Ende stumpf abgeglätteten Schlagbäumen.
    Sonst war alles fast leer, aber das Gedränge dieser Schlagbäume war groß, Wir kamen vor ein Tor, stiegen ohne es zu fühlen aus, traten durch das Tor ein. Hinter dem Tor stieg eine sehr steile Wand aufwärts, die mein Vater fast tanzend erstieg, die Beine flogen ihm dabei so leicht wurde es ihm. Es lag sicher auch einige Rücksichtslosigkeit darin, daß er mir gar nicht half, denn ich kam nur mit der äußersten Mühe, auf allen Vieren, häufig wieder zurückrutschend hinauf, als sei die Wand unter mir steiler geworden. Peinlich war dabei auch, daß sie mit Menschendreck bedeckt war, so daß mir Flocken davon vor allem auf der Brust hängen blieben. Ich sah sie mit geneigtem Gesicht an und fuhr mit der Hand darüber hin. Als ich endlich oben war, flog mir gleich mein Vater, der schon aus dem Innern eines Gebäudes kam, an den Hals und küßte und drückte mich.
    Er hatte einen mir aus der Erinnerung gut bekannten altmodischen, kurzen, im innern sophaartig gepolsterten Kaiserrock an. "Dieser Dr. von Leyden! Das ist doch ein ausgezeichneter Mensch" rief er immer wieder. Er hatte ihn aber durchaus nicht als Arzt besucht sondern nur als kennenswerten Mann. Ich hatte ein wenig Angst, daß ich auch zu ihm hineinmüßte, es wurde aber nicht verlangt. Links hinter mir sah ich in einem förmlich mit lauter Glaswänden umgebenen Zimmer einen Mann sitzen, der mir den Rücken zuwandte. Es zeigte sich, daß dieser Mann der Sekretär des Professors war, daß mein Vater tatsächlich nur mit ihm gesprochen hatte und
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    nicht mit dem Professor selbst, daß er aber irgendwie durch den Sekretär hindurch die Vorzüge des Professors leibhaftig erkannt hatte, so daß er in jeder Hinsicht zu einem Urteil über den Professor genau so berechtigt war, wie wenn er persönlich mit ihm gesprochen hätte.
    Lessingteater: Die Ratten
    Brief an Pick, weil ich ihm nicht geschrieben habe. Karte an Max, aus Freude über Arnold Beer.
    9. V. (1912) Gestern abend mit Pick im Kaffeehaus.
    Wie ich mich gegen alle Unruhe an meinem Roman festhalte, ganz wie eine Denkmalsfigur die in die Ferne schaut und sich am Block festhält.
    Trostloser Abend heute in der Familie. Die Schwester weint wegen Ihrer neuen Schwangerschaft, der Schwager braucht Geld für die Fabrik, der Vater ist aufgeregt wegen der Schwester, wegen des Geschäfts und wegen seines Herzens, meine unglückliche zweite Schwester, die über alles unglückliche Mutter und ich mit meinen Schreibereien.
    22. Mai (1912) Gestern wunderschöner Abend mit Max.
    Wenn ich mich liebe, liebe ich ihn noch stärker. Lucerna.
    Madame, la mort von Rachilde. Traum eines Frühlingsmorgens.
    Die lustige Dicke in der Loge. Die wilde mit der rohen Nase, dem aschebestaubten Gesicht, den Schultern die sich aus dem übrigeng nicht dekolltierten Kleide drängten, dem hin und her gezerrten Rücken, der einfachen weißgetupften blauen Bluse, dem Fechterhandschuh, der immer zu sehen war, da sie die Rechte meistens auf dem rechten Schenkel der neben ihr sitzenden lustigen Mutter ganz oder auf den Fingerspitzen ruhen ließ. Die über den Ohren gedrehten Zöpfe, nicht das reinste hellblaue Band auf dem Hinterkopf, das Haar vorn im dünnen aber dichten Büschel geht rund um die Stirn und vorn weit über sie hinaus. Ihr warmer, faltiger, leichter, nachlässig vor lauter
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    Schmiegsamkeit hängender Mantel, als sie bei der Kassa unterhandelte.
    23 (Mai 1912) Gestern: hinter uns fiel ein Mann vor Langweile vom Sessel. Vergleich von Rachilde: die sich an der Sonne freuen und von den andern Freude verlangen, sind wie Betrunkene die in der Nacht von einer Hochzeit kommen und ihnen Entgegenkommende zwingen, auf das Wohl der
    unbekannten Braut zu trinken.
    Brief an Weltsch, ihm das Du angetragen
    Gestern guter Brief an Onkel Alfred wegen der Fabrik.
    Vorgestern Brief an Löwy
    Jetzt abends vor Langweile dreimal im Badezimmer
    hintereinander mir die Hände gewaschen.
    Angst vor dem Alleinsein am Pfingstsonntag und Montag mit der unglaublichen Begründung, daß die Eltern nach Franzensbad fahren.
    Das Kind mit den zwei kleinen Zöpfchen,

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