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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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ist überdies der Ort der Handlung Rußland, die kaum gesammelten Personen sind über ein ungeheures Gebiet verstreut oder auf einem kleinen nicht verratenen Punkt dieses Gebietes gesammelt, kur z das Stück ist unmöglich geworden, der Zuschauer wird nichts zu sehn bekommen / Trotzdem beginnt das Stück, die offenbar großen Kräfte des Verfassers arbeiten, es kommen Dinge zutage, die den Personen des
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    Teaterzettels nicht zuzutrauen sind, die ihnen aber mit der größten Sicherheit zukommen und wenn man nur dem
    Peitschen, Wegreißen,
    Schlagen, Achselnbeklopfen,
    Ohnmächtigwerden, Halsabschneiden, Hinken, Tanzen in russischen Stulpenstiefeln, Tanzen mit gehobenen Frauenröcken Wälzen auf dem Kanapee glauben wollte weil dies doch Dinge sind, wo keine Widerrede hilft. Es ist jedoch nicht einmal der erinnerungsweise erlebte Höhepunkt der Zuschaueraufregung nötig um zu erkennen, daß der diskrete Eindruck des Teaterzettels ein falscher Eindruck ist, der sich erst nach der Aufführung bilden kann, jetzt aber schon unrichtig, ja unmöglich ist, der nur in einem müde abseitsstehenden entstehen kann, da für den ehrlichen Urteilenden nach der Vorstellung zwischen Teaterzettel und Vorstellung nichts Erlaubtes mehr zu sehen ist.
    Vom Strich angefangen mit Verzweigung geschrieben, weil heute besonders lärmend Karten gespielt werden, ich beim allgemeinen Tische sitzen muß, die O. mit vollem Mund lacht, aufsteht, sich setzt, über den Tisch hingreift, zu mir spricht und ich zur Vo llendung des Unglücks so schlecht schreibe und an die guten, mit ununtergebrochenem Gefühl geschriebenen Pariser Erinnerungen Löwys denken muß, die aus selbständigem Feuer kommen, während ich wenigstens jetzt sicher hauptsächlich deshalb, weil ich so wenig Zeit habe, fast ganz unter Maxens Einfluß stehe, was mir manchmal zum Überfluß auch noch die Freude an seinen Arbeiten verdirbt. Weil es mich tröstet, schreibe ich mir eine autobiographische Bemerkung von Shaw her, trotzdem sie eigentlich das Gegenteil von Trost enthält: Als Knabe war er Lehrling im Contor eines Grund- u.
    Bodenagenten in Dublin. Er gab diesen Posten bald auf und reiste nach London und wurde Schriftsteller. In den ersten 9
    Jahren von 1876 – 1885 verdiente er im ganzen 140 K. "Aber trotzdem ich ein starker junger Mensch war und meine Familie sich in üblen Umständen befand, warf ich mich nicht in den
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    Kampf des Lebens; ich warf meine Mutter hinein und ließ mich von ihr erhalten. Ich war meinem alten Vater keine Stütze, im Gegenteil, ich hieng mich an seine Rockschöße. " Schließlich tröstet es mich wenig. Die Jahre, die er frei in London verbracht hat, sind für mich schon vorüber, das mögliche Glück geht immer mehr ins unmögliche ber, ich führe ein schreckliches ersatzweises Leben und bin feig und elend genug, Shaw nur soweit zu folgen, daß ich die Stelle meinen Eltern vorgelesen habe. Wie mir dieses mögliche Leben mit Stahlfarben, mit gespannten Stahlstangen und luftigem Dunkel dazwischen vor den offenen Augen blitzt!
    27. X 11 Löwys Erzählungen und Tagebücher:
    wie ihn Notre Dame erschreckt, wie ihn der Tiger im Jardin de Plantes ergreift, als eine Darstellung des Verzweifelten und Hoffenden, der Verzweiflung und Hoffnung im Fraße sättigt, wie ihn sein frommer Vater in der Vorstellung befragt, ob er nun Samstag spazieren könne, ob er jetzt moderne Bücher zu lesen Zeit habe, ob er an den Fasttagen essen dürfe, während er doch Samstag arbeiten muß, überhaupt keine Zeit hat und mehr fastet als je eine Religion vorgeschrieben hat. Wenn er an seinem Schwarzbrot kauend durch die Gassen spaziert, sieht es von der Ferne aus, als esse er Chokolade. Die Arbeit in der Mützenfabrik und sein Freund, der Socialist, der jeden für einen Bourgeois hält, der nicht genau so arbeitet wie er, z. B. Löwy mit seinen feinen Händen, der sich Sonntags langweilt, der das Lesen als etwas Üppiges verachtet, selbst nicht lesen kann und Löwy mit Ironie bittet ihm einen Brief vorzulesen, den er bekommen hat.
    Das jüdische Reinigungswasser, das in Rußland jede jüdische Gemeinde hat, das ich mir als eine Kabine denke mit einem Wasserbecken von genau bestimmten Umrissen, mit vom Rabbiner angeordneten und überwachten Einrichtungen, das nur den irdischen Schmutz der Seele abzuwaschen hat, dessen äußerliche Beschaffenheit daher gleichgültig ist, das ein Symbol
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    daher schmutzig und stinkend sein kann und auch ist aber seinen Zweck doch

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