Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
die menschliche Welt eintrete, so müsse man sich doch vor Augen halten, daß das erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und daß man sich dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfe man ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen lassen dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die z. B.
    statt nach diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße heruntergesehen hätten. Das müsse unbedingt verwirren!
    Diese einsame Untätigkeit, die sich in einen arbeitsreichen Newyorker Tag verschaut, könne einem Vergnügungsreisenden gestattet und vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos angeraten werden, für einen der hier bleiben wird sei sie ein Verderben, man könne in diesem Fall ruhig dieses Wort anwenden, wenn es auch eine Übertrei[Fortsetzung nicht in diesem Heft]
    -121-

    Heft 3
    26. XI (Oktober) 1911 Donnerstag.
    Gestern hat Löwy den ganzen Nachmittag "Gott Mensch u.
    Teufel" von Gordon und dann aus seinen eigenen Tagebüchern von Paris vorgelesen. Vorgestern war ich bei der Aufführung des wilden Menschen von Gordon. – Gordon ist deshalb besser als Lateiner, Scharkansky, Feimann u. s. w. weil er mehr Details, mehr Ordnung und mehr Folgerichtigkeit in dieser Ordnung hat, dafür ist hier nicht mehr ganz das unmittelbare, förmlich ein für alle mal improvisierte Judentum der andern Stücke, der Lärm dieses Judentums klingt dumpfer und daher wiederum weniger detailliert. Es werden allerdings dem Publikum Koncessionen gemacht und manchmal glaubt man sich recken zu müssen um über die Köpfe des Newyorcker jüdischen Teaterpublikums weg das Stück zu sehn, (die Gestalt des wilden Menschen, die ganze Geschichte der Frau Seldes) schlimmer aber ist daß auch irgendeiner geahnten Kunst greifbare Koncessionen gemacht werden, daß z. B. im wilden Menschen die Handlung einen ganzen Akt flattert infolge von Bedenken, daß der wilde Mensch menschlich undeutliche, litterarisch aber so grobe Reden hält daß man lieber die Augen schließt, ebenso ist das ältere Mädchen in G. M. und Teufel.
    Sehr muthig ist teilweise die Handlung des "w. M. ". Eine junge Witwe heirathet einen alten Mann, der vier Kinder hat, und bringt gleich ihren Liebhaber den Wladimir Worobeitschik mit in die Ehe. Nun ruinieren die zwei die ganze Familie, Schmut Leiblich (Pipes) muß alles Geld hergeben und wird krank, der älteste Sohn Simon (Klug) ein Student verläßt das Haus, Alexander wird ein Spieler und Säufer, Lise (Tschisik) wird Dirne und Lemech (Löwy), der Idiot wird gegenüber der Frau Selde von Haß, weil sie an Stelle seiner Mutter tritt, und von Liebe, weil sie die erste ihm nahe junge Frau ist, in einen idiotischen Wahnsinn gebracht. Die so weit getriebene
    -122-

    Handlung löst sich mit der Ermordung der Selde durch Lemech.
    Alle andern bleiben dem Zuschauer in unvollendeter hilfloser Erinnerung. Die Erfindung dieser Frau und ihres Liebhabers, eine Erfindung die niemanden um seine Meinung fragt hat mir unklares verschiedenartiges Selbstvertrauen gegeben.
    Der diskrete Eindruck des Teaterzettels. Man erfährt nicht nur die Namen, sondern etwas mehr, aber doch nur so viel, als der Öffentlichkeit und selbst der wohlwollendsten und kühlsten über eine ihrem Urteil ausgesetzte Familie bekannt werden muß.
    Schmut Leiblich ist "ein reicher Kaufmann" es wird aber nicht gesagt, daß er alt und kränklich, ein lächerlicher Weiberfreund ein schlechter Vater und ein pietätloser Witwer ist, der am Jahrzeittag seiner Frau heirathet. Und doch wären alle diese Bezeichnungen richtiger als jene des Teaterzettels, denn am Ende des Stückes ist er nicht mehr reich, weil ihn die Selde ausgeraubt hat, er ist auch kaum ein Kaufmann mehr, da er sein Geschäft vernachlässigt hat. Simon ist auf dem Teaterzettel "ein Student" also etwas sehr vages, was unseres Wissens viele Söhne unserer entferntesten Bekannten sind. Alexander, dieser charakterlose junge Mann ist nur "Alexander", von "Lise" dem häuslichen Mädchen weiß man auch nur daß sie "Lise" ist.
    Lemech ist leider "ein Idiot" denn das ist etwas, was sich nicht verschweigen läßt. Wladimir Worobejtschik ist nur "Seldes Geliebter", aber nicht der Verderber einer Familie, nicht Säufer, Spieler, Wüstling, Nichtstuer, Parasit. Mit der Bezeichnung
    "Seldes Geliebter" ist zwar viel verraten, mit Rücksicht auf sein Benehmen aber ist es das wenigste, was man sagen kann. Nun

Weitere Kostenlose Bücher