Tagebücher der Henker von Paris
Furcht, welche diese Stille einflößte, wurde noch durch den Schrecken vergrößert, der zu jener Zeit auf Frankreich lastete. Die alte Dame war noch niemandem begegnet. Auch war ihr geschwächtes Auge nicht fähig, in der Ferne beim Schein der Laterne einige Vorübergehende zu bemerken, die auf der unendlich langen Straße, dieser Vorstadt wie dünn gesäte Schatten erschienen. Mutig ging sie allein durch diese Öde, als böte ihr Alter ihr einen Talisman gegen jedes Unglück.
Als sie die Straße der Toten passiert hatte, glaubte sie den schweren und festen Schritt eines Mannes hinter sich zu hören. Dann bildete sie sich ein, sie vernähme dieses Geräusch nicht zum erstenmal. Sie erschrak bei dem Gedanken, daß man ihr gefolgt sei und versuchte schneller zu gehen, um einen hell erleuchteten Laden zu erreichen, in der Hoffnung, beim Scheine dieses willkommenen Lichtes ihren Verdacht als unbegründet zu erkennen. Sobald sie in dem wagerechten Lichtschimmer war, welcher die Straße erhellte, wendete sie schnell den Kopf und erblickte einen Mann, dessen Gestalt sich in dem Nebel nicht deutlich zeichnete. Diese unbestimmte Erscheinung genügte. Einen Augenblick schwankte sie unter dem Eindruck des Schreckens; denn sie zweifelte jetzt nicht länger, daß sie von diesem Unbekannten seit dem Augenblick verfolgt würde, da sie ihr Haus verlassen hatte. Der Wunsch, diesem stummen Verfolger zu entschlüpfen, verlieh ihr Kraft und unwillkürlich verdoppelte sie ihre Schritte, ohne zu bedenken, daß sie einem Manne, der ihr an Behendigkeit überlegen war, nicht entrinnen konnte. Nachdem sie einige Minuten gelaufen war, gelangte sie zu dem Laden eines Pastetenbäckers, trat ein und setzte sich oder sank vielmehr auf einen Stuhl, der vor dem Ladentisch stand.
In dem Augenblick, als sie die Klinke der Tür berührte, blickte eine junge Frau von ihrer Stickerei auf. Als sie durch die Fensterscheiben den Mantel von antikem Schnitt und violette Seide erblickte, in den die alte Dame gehüllt war, öffnete sie schnell ein Schubfach, als wolle sie etwas herausnehmen und es ihr zustecken. Die Gebärden und die Miene der jungen Frau drückten sogar den Wunsch aus, sich schnell der Unbekannten wie einer Person, mit der man nicht gern zu tun hat, zu entledigen. Als sie das Schubfach leer fand, entschlüpfte ihr ein Wort der Ungeduld. Ohne die Dame anzublicken, verließ sie schnell den Ladentisch, ging nach dem hinteren Teil des Ladens und rief ihren Mann, der sogleich erschien.
»Wohin hast du es denn gelegt?« fragte sie mit geheimnisvoller Miene, indem sie mit dem Auge nach der alten Dame blinzelte.
Sie vollendete ihre Rede nicht; denn kaum hatte der Pastetenbäcker nur den großen schwarzen Seidenhut mit violetten Bandstreifen, den die Unbekannte trug, erblickt, so verschwand er sogleich, nachdem er seiner Frau einen Blick zugeworfen, welcher zu sagen schien:
»Glaubst du denn, daß ich dies in deinem Ladentisch lassen würde?«
Erstaunt über das Stillschweigen und die Unbeweglichkeit der alten Dame trat die Kaufmannsfrau zu ihr heran und konnte sich bei ihrem genaueren Anblick nicht einer Regung des Mitleids oder vielmehr der Neugierde erwehren.
Obgleich die Gesichtsfarbe dieser Frau von Natur bleich war wie die einer Person, welche sich geheimen Bußübungen unterworfen hat, so war doch leicht zu bemerken, daß eine kürzliche Aufregung diese außerordentliche Blässe noch gesteigert hatte. Ihr Kopfputz war der Art geordnet, daß man ihr wahrscheinlich vor Alter gebleichtes Haar nicht sehen konnte; die Sauberkeit ihres Kragens ließ schließen, daß sie sich des Puders nicht bediente. Der Mangel jedes Zierrats verlieh ihrem Gesicht eine Art religiöser Strenge. Ihre Züge waren ernst und stolz. Früher waren die Manieren und Gewohnheiten der Leute von Stande so ganz verschieden von denen der übrigen Klassen, daß man leicht eine adlige Person erkennen konnte. Die junge Frau wurde auch unwillkürlich überzeugt, daß die Unbekannte eine ehemalige Adlige sei und früher am Hofe gelebt habe.
»Madame« begann sie unwillkürlich und ehrfurchtsvoll, indem sie vergaß, daß dieser Titel geächtet war.
Die alte Dame antwortete aber nicht. Sie hielt ihre Blicke auf die Scheiben des Ladens geheftet, als ob sich ein fürchterlicher Gegenstand dort abgezeichnet hätte.
»Was fehlt dir denn, Bürgerin?« fragte der Hausherr, der jetzt erschien und die Dame aus ihrem Nachdenken weckte, indem er ihr ein mit blauem Papier bedecktes
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