Tagebücher der Henker von Paris
war. Wenn man sich unter der Last eines großen Unglücks und unter dem Joche der Verfolgung befindet, so beginnt ein mutiger Mann damit, daß er sich gleichsam als Opfer seiner selbst betrachtet und seine Tage als ebenso viele über das Schicksal gewonnene Siege zählt.
Aus den Blicken, welche die beiden Frauen auf den Greis hefteten, konnte man leicht erraten, daß er den einzigen Gegenstand ihrer lebhaften Besorgnis ausmachte.
»Weshalb sollten wir an Gott verzweifeln, meine Schwestern?« sagte er mit dumpfer aber klangvoller Stimme. »Wir sangen sein Lob mitten unter dem Geschrei, welches die Mörder und die Sterbenden im Kloster der Karmeliter ausstießen. Wenn er wollte, daß ich aus dieser Schlächterei gerettet wurde, so geschah es ohne Zweifel, weil er mich einer Bestimmung vorbehielt, die ich ohne Murren hinnehmen muß. Der Herr beschützt seine Priester Und kann über sie nach seinem Willen verfügen. Ihr müßt euch mit euch selber und nicht mit mir beschäftigen.«
»Nein«, sagten die beiden alten Frauen.
»Sobald ich mich außerhalb der Abtei de Chelles sah, betrachtete ich mich als gestorben!« rief diejenige von den beiden Nonnen, welche in der Ecke am Kamin saß.
»Hier sind die Hostien,« sprach die Angekommene, indem sie dem Priester das Schächtelchen reichte; »aber,« rief sie plötzlich, »ich höre jemand die Treppe heraufkommen!«
Bei diesen Worten lauschten alle drei. Das Geräusch hörte auf.
»Erschrecket nicht,« sagte der Priester, »wenn jemand versucht, zu uns zu gelangen. Eine Person, auf deren Treue wir zählen können, hat sicherlich die geeigneten Maßregeln getroffen, um die Grenze zu überschreiten, und wird die Briefe abholen, die ich an den Herzog von Lorges und an den Marquis von Bethune geschrieben habe, damit dieselben euch diesem schrecklichen Lande und dem Tode oder dem Elend entreißen.«
»Und Ihr werdet uns nicht folgen?« riefen die beiden Nonnen im Tone der Verzweiflung.
»Meine Stelle ist da, wo es Opfer gibt!« antwortete der Priester mit der größten Ruhe.
Sie schwiegen und betrachteten ihren Wirt in stummer Verwunderung.
»Schwester Martha,« sagte er, indem er sich an die Nonne wendete, welche die Hostien geholt hatte, »dieser Bote wird antworten:
Fiat voluntas!
auf das Wort: Hosanna!«
»Es ist jemand auf der Treppe!« rief die andere Nonne, indem sie ein Versteck öffnete, das geschickt unter dem Dache angebracht war.
Dieses Mal ließ sich bei der tiefen Stille deutlich der Schritt eines Mannes auf den Treppenstufen vernehmen. Der Priester barg sich mit Mühe in einer Art von Schrank und die Nonne warf einige Lumpen über ihn.
»Ihr könnt schließen, Schwester Agathe!« sagte er mit erstickter Stimme.
Kaum war der Priester verborgen, als drei Schläge an die Tür die beiden frommen Schwestern erbeben machten; ohne ein Wort zu sprechen, befragten sie sich mit den Blicken. Sie schienen beide etwa sechzig Jahre alt zu sein; seit vierzig Jahren von der Welt getrennt, glichen sie den Pflanzen, welche, an die Treibhausluft gewöhnt, sterben, wenn man sie daraus entfernt. An das Leben des Klosters gewöhnt, konnten sie ein anderes nicht begreifen. Eines morgens waren ihre Gitter zerbrochen worden und sie erbebten, als sie sich frei fanden. Man kann sich leicht vorstellen, welchen betäubenden Eindruck die Ereignisse der Revolution auf ihre unschuldigen Gemüter ausgeübt hatte. Da sie nicht imstande waren, ihre klösterlichen Begriffe mit den Beschwerlichkeiten des Lebens in Einklang zu setzen und sogar ihre Lage nicht verstanden, so glichen sie Kindern, für die man bis dahin Sorge getragen hatte und die, plötzlich von ihrer mütterlichen Vorsehung verlassen, beteten anstatt zu schreien. Auch vor der Gefahr, die sie in diesem Augenblick vorhersahen, blieben sie stumm und leidend, denn sie kannten keine andere Verteidigung als die christliche Ergebung.
Der Mann, welcher Eintritt verlangte, deutete dieses Schweigen in seiner Weise: er öffnete die Tür und zeigte sich plötzlich. Die beiden Nonnen zitterten, als sie in ihm dieselbe Person erkannten, welche seit fünf oder sechs Tagen um das Haus schlich und sich über sie zu unterrichten schien. Unbeweglich betrachteten sie ihn mit sorgenvoller Neugierde, wie wilde Kinder schweigend die Fremden betrachten.
Dieser Mann war von mittlerem Wuchs und ein wenig beleibt, aber nichts in seiner Haltung, in seiner Miene und in seinen Gesichtszügen deutete auf einen bösen Menschen. Er ahmte die
Weitere Kostenlose Bücher