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Tagebücher der Henker von Paris

Tagebücher der Henker von Paris

Titel: Tagebücher der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Sanson
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des erstaunten und zitternden Gatten.
    Kaum sah sich die Unbekannte im Freien, als sie so schnell wie möglich lief; aber bald fühlte sie sich von ihren Kräften verlassen. In der Tat hörte sie den Schnee unter dem schweren Schritt des Mannes, der ihr unbarmherzig folgte, knistern. War sie genötigt, still zu stehen, so hielt auch er an. Sie wagte es weder, mit ihm zu sprechen noch ihn anzublicken, entweder infolge der Furcht oder aus Mangel an Überlegung. Sie setzte nun ihren Weg mit langsamem Schritte fort und er verzögerte gleichfalls seine Geschwindigkeit, so daß er nur in der nötigen Entfernung blieb, um sie zu überwachen. Er schien der Schatten der alten Frau zu sein: es schlug neun Uhr, als dieses schweigende Paar wieder an der Ecke Saint Laurent vorüberkam.
    In der Natur der menschlichen Seele, selbst der schwächsten, liegt es, daß einer heftigen Aufregung immer das Gefühl der Ruhe folgt; daraus erklärt sich vielleicht, daß die Unbekannte, als sie von ihrem mutmaßlichen Verfolger kein Leid erfuhr, sich einbildete, es sei ein geheimer Freund, der sie zu schützen beabsichtige. Sie suchte alle Umstände, welche mit der Erscheinung des Fremden verbunden waren, dieser tröstenden Meinung anzupassen, und so gelangte sie dazu, eher eine gute als eine böse Absicht in ihm zu vermuten. Indem sie den Schrecken vergaß, den er dem Pastetenbäcker eingeflößt hatte, ging sie festeren Schrittes der oberen Gegend des Faubourg Saint Martin zu.
    Nachdem sie eine halbe Stunde gegangen war, gelangte sie an ein Haus, welches an dem Vorsprunge lag, der durch die Hauptstraße des Faubourg und durch die nach der Barrière Pantin führenden Straße gebildet wird. Dieser Ort war einer der ödesten in ganz Paris. Der Wind, der über die Hügel Saint Chaumont und Belleville wehte, strich zwischen den Häusern oder vielmehr den Hütten in diesem fast unbewohnten Teile hindurch. Nichts konnte die Öde besser darstellen, als dieser Ort, der die natürliche Zufluchtsstätte des Elends und der Verzweiflung zu sein schien. Der Mann, der sich an die Fersen des armen Geschöpfes heftete, das kühn genug war, diese schweigenden Straßen bei Nachtzeit zu durchschreiten, schien von dem Schauspiel, welches sich seinen Blicken darbot, betroffen. Er blieb gedankenvoll und schwankend stehen. Er wurde von dem Schein eine Straßenlaterne, der den Nebel kaum durchdrang, schwach beleuchtet; aber die Furcht schärfte das Auge der alten Frau und als sie einen düsteren Zug an dem Unbekannten wahrnahm, fühlte sie alle Furcht wieder erwachen. Die Unentschlossenheit, in welcher der Mann stehen blieb, benutzend, eilte sie in dem Schatten der Tür des einsamen Hauses zu, drückte an die Klinke und schlüpfte mit wunderbarer Geschwindigkeit hinein.
    Der Mann blieb unbeweglich stehen und betrachtete dieses Haus. Es glich einigermaßen den übrigen Wohnungen, welche den Vorstädten von Paris ein so klägliches Aussehen geben.
    Diese schwankende Hütte war aus Bruchsteinen erbaut und mit einer Lage gelblichen Gipses überzogen, dabei aber so baufällig, als ob der geringste Windstoß es über den Haufen werfen könnte. Das braune und mit Moos bedeckte Ziegeldach senkte sich an mehreren Stellen derart, daß man hätte glauben sollen, es würde dem Druck des Schnees erliegen. Jedes Stockwerk hatte drei Fenster, deren Läden, von Feuchtigkeit und den Einwirkungen der Sonne verfault, kundgaben, daß die Kälte in die Zimmer eindrang. Dieses verlassene Haus glich einem alten, von der Zeit nicht völlig zerstörten Turme. Ein schwaches Licht schien durch die drei unregelmäßig angebrachten Dachfenster im obersten Stockwerk und der übrige Teil des Hauses befand sich in völliger Dunkelheit.
    Die alte Frau stieg nicht ohne Mühe die steile und plumpe Treppe hinauf, an welcher ein Seil an Stelle des Geländers diente. Sie klopfte geheimnisvoll an die Tür der Wohnung im Dache und setzte sich hastig auf einen Stuhl, den ihr ein Greis darbot.
    »Verbergen Sie sich! Verbergen Sie sich!« sagte sie zu ihm; »denn obgleich wir nur selten ausgehen, sind unsere Schritte bekannt und ausspioniert.«
    »Was gibt es denn?« fragte eine andere alte Frau, die am Feuer saß.
    »Der Mann, der schon seit einigen Tagen das Haus umschleicht, ist mir heute abend gefolgt.«
    Bei diesen Worten blickten sich die drei Bewohner der Dachstube an und in ihren Zügen zeichnete sich der höchste Schrecken. Der Greis war am heftigsten erregt, vielleicht weil er am meisten in Gefahr

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