Tagebücher der Henker von Paris
wohnte eine Kusine von Meister Mathurin in dessen Hause.
Diese Frau hieß Elisabeth Verdier; ihr Mann war Stallknecht im großen Marstall, sie selbst in der Wäschekammer des königlichen Schlosses angestellt gewesen. Herr Verdier war tot, und seine Frau hatte wegen einer immer mehr zunehmenden Augenschwäche ihre bescheidene Stellung aufgegeben. Die Tanten des Königs ließen sich durch die unglückliche Lage der Witwe, von der man ihnen erzählte, dazu bewegen, ihr eine Pension von zweihundert Livres auszusetzen. Jedoch Elisabeth Verdier hatte eine Tochter, und so reichte diese Unterstützung nicht hin, die allerbescheidensten Bedürfnisse zweier Personen zu befriedigen.
Da war nun Meister Mathurin bei der Hand und half, soviel er helfen konnte.
Helene Verdier, so hieß das kleine Mädchen, war damals neun Jahre alt und ein Kind, dessen seine und regelmäßige Züge schon im voraus die künftige große Schönheit verkündeten. Da der junge Hufschmied, wie es in seinem Alter gewöhnlich zu sein pflegt, einen nicht geringen Stolz auf sein Wissen besaß, so war er sehr erfreut, bei dieser Gelegenheit seine Gelehrsamkeit auf eine nützliche Weise anwenden zu können; er übernahm die geistige Ausbildung Helenens und gab ihr Unterricht im Lesen und Schreiben.
Freilich glaubte Jean Louis lange Zeit hindurch, in Helenen nichts anderes als eben nur seine fleißige und gelehrige Schülerin zu lieben, deren Fassungsgabe und große Fortschritte ihm als ihrem Lehrer Ehre machten. So suchte er denn auch nicht das ihm ungefährlich erscheinende Gefühl zu unterdrücken, und erst nach seiner gewaltsamen Entfernung aus dem väterlichen Hause und der damit verbundenen Trennung von dem jungen Mädchen wurde es ihm zur schmerzlichen Gewißheit, daß er Helene liebte, ja daß seine zärtliche Neigung zur unauslöschlichen Leidenschaft geworden war.
Er beschloß, sich ihr um jeden Preis wieder zu nähern.
Er wartete zwei Tage lang in einer Sackgasse auf sie, wo sie gewöhnlich in einem daselbst befindlichen Laden ihre kleinen Lebensbedürfnisse zu holen pflegte. Aber er wartete vergebens und sah sie in den bezeichneten Laden weder hineingehen noch aus ihm herauskommen.
Auf eine Frage bei der alten, schon erwähnten Dienerin erfuhr er, daß seit einiger Zeit Helene ihre Mutter nicht mehr verlasse und daß von da ab, nach dem ausdrücklichen Befehl des Meisters Mathurin, sie, die Magd, ihre kleinen Bedürfnisse einkaufen müsse.
Da seine ersten Versuche mißglückten, schlug Jean Louis nun andere Wege ein. Er wartete den Augenblick ab, wo Arbeiten außer dem Hause seinen Vater aus der Wohnung riefen, und begab sich, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, schnell nach der väterlichen Behausung. Ebenso schnell stieg er die zwei Treppen hinan und trat in das Zimmer der Frau Elisabeth Verdier.
Die Überraschung, welche er dort hervorrief, bewies dem jungen Manne, daß Helene eine nur schwesterliche Zuneigung zu ihm besaß.
Das Benehmen der Witwe gegen Jean Louis war kalt, zurückhaltend, ja fast streng. Kaum forderte sie den Besucher auf, Platz zu nehmen.
Endlich wurde Jean Louis Herr seiner Bewegung; aber immer noch unter dem Einfluß der Leidenschaft, welche ihn hierher getrieben hatte, bestanden seine ersten Worte in der Bitte, Helene sehen zu dürfen.
Die Witwe Verdier antwortete ihm, daß ihre Tochter so beschäftigt sei, daß er sie nicht stören dürfe.
Jean Louis seufzte.
Ohne große Umschweife und Einleitungen erzählte er darauf Madame Verdier, wie er die Entdeckung gemacht habe, daß er seine junge Kusine liebe. Er schilderte ihr mit der Begeisterung seiner aufrichtigen Neigung das allmähliche Entstehen seiner Liebe und schloß mit der Bitte an die Witwe, ihm Helene zur Frau zu geben.
Als Madame Verdier dies gehört hatte, legte sich ihr Gesicht womöglich noch mehr in Falten. Sie antwortete dem Antragsteller ganz kurz und in überaus strengem und verweisendem Tone, daß jetzt, wo er den gerechten Zorn seines Vaters verdient und seine Zukunft in Frage gestellt habe, doch nicht der geeignete Moment für solche Pläne sei und daß er doch lieber an andere Dinge denken möge. Was übrigens die ganze Werbung anbelange, so hätte sie betreffs ihres Kindes andere Absichten und würde es auch nimmer einem jungen Manne geben, dessen Grundsätze alle rechtschaffenen Leute verdammten.
Jean Louis beging die Unklugheit, sie an ihre früheren Ansichten zu erinnern. Diese Berufung auf eine Vergangenheit, auf welche sie sich nicht
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