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Tagebücher der Henker von Paris

Tagebücher der Henker von Paris

Titel: Tagebücher der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Sanson
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stammelte einige unverständliche Worte. Vergebens versuchte sie zu antworten. Ihre Stimme erstickte unter lautem Schluchzen. Sie verbarg das Antlitz in ihren Händen, und erst als Jean Louis ihr dringende Vorstellungen machte, entschloß sie sich, zu reden. Sie erzählte ihm, daß sie die Unterhaltung gehört hätte, welche er mit ihrer Mutter gepflogen, und daß eine Vereinigung mit ihm das größte Glück für sie wäre, welches sie auf Erden hoffen könnte. Nach seinem Hinweggehen, fuhr Helene schluchzend fort, habe sie die Kammer verlassen und sich ihrer Mutter zu Füßen geworfen, um deren festen Willen zu beugen. Die Antwort dieser sei jedoch folgende gewesen: daß man zwischen einem armen Sohne und einem begüterten Vater, der sie überdies zur Frau zu haben wünsche, gar keine Wahl mehr haben könnte. Helene gestand Jean Louis, daß ihre Mutter zuerst ihren Wünschen lebhafte Vorstellungen, später Drohungen entgegengesetzt habe, bis sie schließlich fortgesetzten Bitten durch rohe Mißhandlungen ein Ziel gesetzt. Hierauf, versicherte das arme, schöne Kind, hätte sie ganz den Kopf verloren und geduldig wie ein Opferlamm alles mögliche mit sich machen lassen. Erst in den letzten Tagen war ihr der Gedanke an Flucht gekommen, und diesen hatte sie nun heute ausgeführt. Ihre Absicht war gewesen, zu dem zu gehen, den sie liebe, und ihn um Hilfe zu bitten, damit er sie vor einem Ehebündnis bewahre, welches nur zu ihrem und des Geliebten Unglück geschlossen werden könnte.
    Einige Stunden vorher, und Jean Louis Louschart hätte gar keinen anderen Gedanken gehabt, als nur auf irgendeine Weise an dem Ort bleiben zu können, wo es ihm vergönnt war, Helene wenigstens bisweilen zu sehen. Jetzt, wo er das schöne Mädchen, welches ihn mit so zärtlich bittendem Blick ansah, in den Armen hielt, stieg ein anderes Gefühl in ihm auf. Helene hatte ihm soeben ihre Liebe gestanden, er selbst eine Flucht vorschlagen wollen, die ihm ihren Besitz sichern konnte – da erwachte plötzlich in der Brust Louis' eine Opferfreudigkeit, die er vorher nie besessen. Eine geheime Stimme sagte ihm, daß es nun an ihm wäre, diesem unverhofften Glück mit mutigem Herzen zu entsagen.
    Der junge Louschart behauptete dies vor Gericht, und die folgenden Ereignisse beweisen, daß er die Richter nicht belog.
    In dem bezeichneten Augenblick hatte er nur den einen Gedanken, seiner Freundin die Pflichten klarzumachen, welche ihnen beiden diese so eigentümlichen Verhältnisse auferlegten. Jean Louis ermahnte seine ehemalige Schülerin mit einer bewunderungswürdigen Entsagung, sich in das Unvermeidliche zu schicken und die Wünsche ihrer Mutter zu erfüllen.
    Helene zeigte sich der großen Seele ihres Geliebten ebenbürtig, denn etwa eine Stunde vor Tagesanbruch gingen beide in der Richtung nach dem Hause des Hufschmieds zu.
    Das junge Mädchen hatte den Schlaf ihrer Mutter benutzt, aufzustehen und das Haus zu verlassen; Jean Louis wünschte demnach, daß sie, ohne bemerkt zu werden, in das Haus zurückkehrte, damit ihre heimliche Entfernung für Frau Verdier nicht der Vorwand zu neuen Mißhandlungen würde.
    Die Werkstatt von Meister Mathurin wurde jeden Abend fest verriegelt und durch große Querbalken vor Einbruch geschützt. Der Hufschmied selbst schlief in einer hinter dieser Werkstatt gelegenen Kammer. Auf dieser Seite des Hauses ging ein kleines Seitengäßchen hinab, welches in einen engen Hof mündete; von hier aus führte eine Außentreppe direkt in die oberen Stockwerke des Hauses.
    Die Eingangstür zu dem Seitengäßchen war stets offen, und da Helene in ihrer Angst auch vergessen hatte, die Tür, welche zu der Wohnung ihrer Mutter führte, zu schließen, schien die Rückkehr des jungen Mädchens bedeutend erleichtert.
    Bald standen beide vor dem Hause. Es schien alles finster und ruhig darin. Da Jean Louis die Bewohner schlafend glaubte, atmete er erleichtert auf.
    Er geleitete Helene bis an die Pforte zu dem Gäßchen; weder er noch das junge Mädchen hatte die Kraft, das Wort »Adieu« auszusprechen. Ihre tränenfeuchten Blicke begegneten sich; ihre Hände schlossen sich fest ineinander. Aber jeder Augenblick Zögerung konnte möglicherweise große Gefahren bringen, daher öffnete Jean Louis endlich selbst die Tür. Ohne das mindeste Geräusch ging sie auf. Der junge Mann löste gewaltsam die zarten Finger der Geliebten, welche krampfhaft seine rechte Hand umfaßt hielten, und floh, denn er fühlte, wie allmählich der Mut, den

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