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Tagebücher der Henker von Paris

Tagebücher der Henker von Paris

Titel: Tagebücher der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Sanson
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er bis dahin bewahrt hatte, zu weichen begann.
    Eben wollte er über die Straße gehen, um unter dem Schirmdach der Fruchtbude aufzupassen, daß Helene auch ja keine Gefahr liefe. Da – er war noch keine zehn Schritte gegangen – unterbrach ein furchtbares Geschrei die nächtliche Stille. Er erkannte nur zu gut die Stimme des jungen Mädchens, welches ihn zu Hilfe rief.
    Jean Louis stürzte, zu Tode erschrocken, nach der erwähnten Pforte zurück.
    Das vorher vollkommen dunkle Gäßchen war jetzt von einem schwachen Lichtschimmer erhellt, der aus dem weitgeöffneten Zimmer des Meisters Mathurin kam.
    Auf der Türschwelle stand der alte Hufschmied selbst, die Arme gekreuzt und das Haupt auf die Brust geneigt.
    Aber Jean Louis sah nicht auf seinen Vater, er sah nur Helene, auf dem holprigen Steinpflaster ausgestreckt, und die Mutter des jungen Mädchens, welche, einer Furie ähnlich, das arme Kind an den Haaren schleifte und ihren Kopf zu wiederholten Malen und immer heftiger auf die spitzigen Steine des Bodens stieß.
    Jean Louis stürzte vor, um seine Geliebte den Händen dieses wütenden Scheusals zu entreißen; aber der alte Louschart trat in das Gäßchen und versperrte dem Herbeieilenden den Weg, ohne ein Wort zu sagen.
    »Mein Vater!« schrie Jean Louis, ganz außer sich über diese Erscheinung, »sie ist unschuldig! Bei dem Andenken an meine geliebte Mutter beschwöre ich Euch! Wollt Ihr es denn dulden, daß man das arme Kind vor Euren Blicken mordet?«
    »Je lieber das Kind, je schärfer die Rute, Jean Louis! Du machst mir fast Lust, dich, wie du hier vor mir stehst, zu züchtigen, obwohl ich dich heute kaum noch lieb habe!«
    »Mein Vater! Im Namen Gottes beschwöre ich Euch, beruhigt Euch!«
    »Gottes? Du rufst den Namen Gottes an und glaubst nicht an Gott? Du, dessen Aufführung seit zwei Jahren so gotteslästerlich war?«
    »Sprecht nicht so. Helene ist unschuldig. Noch einmal, ich schwöre es! Ich werde Euch alles sagen, Vater!«
    »Unschuldig?« rief Frau Verdier mit kreischender Stimme. »Sie würde es ohne dich sein. Elender! Du bist es, der die Unglückliche verführt hat!«
    Der alte Louschart wiederholte traurig, mit einer wahren Grabesstimme:
    »Elender!«
    »Mein Vater, ich habe Euch durch meinen Widerstand gekränkt, indem ich meine Meinung der Eurigen, meine Ansichten den Eurigen entgegensetzte. Ich bitte Euch jetzt reuevoll und demütig um Verzeihung. Ich werde meine liebsten und teuersten Gefühle Euch opfern. Ich werde alles, was mir meine Vernunft sagt, ableugnen. Ich werde mich fortan, ohne zu fragen, Eurem Willen unbedingt unterwerfen, nur verweigert mir jetzt meine Bitte nicht! Glaubt mir, wenn ich ihre Unschuld bezeuge, wenn ich schwöre, daß sie nicht aufgehört hat, Eurer würdig zu sein.«
    »Ah!« rief der Hufschmied unter spöttischem Gelächter, »das ist also der Grund, der dich bestimmt, Abbitte zu tun? Du liebst sie wohl recht sehr, Jean Louis, meine Zukünftige?« Der junge Mann machte eine verzweiflungsvolle Gebärde.
    »Elender!« wiederholte der alte Louschart, dessen bisher leichenblasses Gesicht nunmehr purpurrot zu werden begann.
    Unter dem Einfluß dieser Beleidigungen und rohen Vorwürfe, die Jean Louis nicht verdient zu haben glaubte, begann allgemach sein Mut wieder zu wachsen. Er hatte den Kopf erhoben, und seine Blicke ertrugen ruhig das zornige Anstarren seines Vaters.
    »Ja, Elender!« sagte zum dritten Male der Hufschmied, der den Unwillen bemerkt hatte, welchen dies Wort bei seinem Sohne hervorgerufen. »Elender! Ja, ja, sieh nur her, das ist der Name, den wir rechtschaffene Menschen mit Fug und Recht solchen Abtrünnigen wie dir geben können.«
    »Bin ich denn meiner Gesinnung abtrünnig geworden, mein Vater?« fragte Jean Louis ungeduldig.
    Aber der Alte hörte ihn nicht an und setzte seine Rede fort:
    »Ich mußte deine Religion und dein Gott sein, wenn du glaubtest, des Gottes da droben entbehren zu können. Ach!« sagte er wie im Selbstgespräch, »ich, der ich so glücklich war, wie ich dich noch als ganz kleinen Buben in meinen Händen halten konnte. Ich erzog dich so zufrieden und stolz und liebte dich – wie man nur sein herrlichstes Gut lieben kann. Wie oft sagte ich zu mir: auch du wirst bald das einzige Gut deines Kindes sein! Alter Narr!«
    Jean Louis wollte ihn unterbrechen, aber der Greis begann nun einmal zu schwärmen und ließ ihn nicht zu Worte kommen.
    »Ach,« setzte er seine Rede fort, »das Pferd, dessen Huf ich beschlage, ist

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