Tagebücher der Henker von Paris
umwendend, unter einem schmerzlichen Lächeln:
»Sind Sie nicht bedrängter als ich, mein Herr?«
Um viereinhalb Uhr morgens bestieg man den Karren. Die richterlichen Kommissarien hatten gehofft, daß infolge der geheimen Anordnungen alles beendet sein würde, bevor die Bevölkerung der Stadt erwacht wäre.
Als man das Gefängnis verließ, sah man erst ein, wie unnütz die Verheimlichung der getroffenen Bestimmung gewesen war.
Trotz der frühen Morgenstunde flutete schon vor den Pforten des Gefängnisses das Volk auf und nieder.
Der Henkerkarren wurde durch eine Flut von Schimpfnamen empfangen, und nur unter Anwendung der größten Mühe gelang es, dem Fuhrwerk in dem Haufen einen Weg zu bahnen.
Der Verurteilte vermutete nicht, daß diese Bewegung eine Folge des Mitgefühls für ihn sein könnte. Vielleicht sah er sogar darin noch die Anzeichen des allgemeinen Abscheus und der wilden Wut, die ihn nach seiner Verhaftung bei dem Einbringen in Versailles empfangen hatte. Er hörte mit frommer Ergebung die Ermahnungen seines Beichtigers und wagte es nicht einmal, die Augen auf seine Umgebung zu richten. Am Ausgange der Rue de Satory indessen ereignete sich etwas, das ihn seinen frommen Betrachtungen entriß.
Plötzlich erscholl ein Mark und Bein durchdringendes, gellendes Geschrei, ein verzweifelter Ruf übertönte das Lärmen der Menge. Wie mit einemmal trat Totenstille ein, und man sah ein junges, totenbleiches Mädchen, welches ein Taschentuch schwenkte und offenbar die Aufmerksamkeit des Verurteilten hierdurch auf sich zu ziehen suchte.
Bei dem Tone dieser Stimme, welche bei dem Volke eine so merkwürdige Stille hervorgebracht, hatte Jean Louis Louschart den Kopf erhoben und sich augenblicklich, trotz der Ketten, welche seine Arme und Beine schwer belasteten, von seinem Sitze aufgerichtet. Er wendete sein Gesicht nach der Seite, wo er das junge Mädchen sah, das von den Begleitern des Henkerkarrens an weiterer Annäherung verhindert wurde. Seine Augen waren voll Tränen, die ersten, die man ihn an diesem Morgen vergießen sah. Er versuchte zu lächeln, dann aber rief er in einem herzzerreißenden, wehmütigen Tone:
»Lebe wohl, Helene! Lebewohl!«
In demselben Augenblicke drängte sich ein riesenhafter Mann vor, ein Grobschmied, welcher, seitdem der Henkerkarren das Gefängnis verlassen, diesem unmittelbar vorangegangen war, sprang auf die Deichselstange und schrie mit einer furchtbaren, alles übertönenden Stimme:
»Du mußt sagen: auf Wiedersehen, Jean Louis! Darf man denn rechtschaffene, makellose Männer, wie dich, rädern?«
Einer der den Karren begleitenden Bewaffneten stieß ihn zurück; aber das Beifallsgeschrei, welches bei den Worten des Schmiedes ausbrach, zeigte deutlich, daß er nur die allgemeine Meinung ausgesprochen hatte. Wunderbarerweise kam man ohne irgendwelchen Angriff am Fuße des Schafotts an.
Auf der Place St. Louis war der Volksandrang ungeheuer; sämtliche Straßen spieen die in ihnen flutende Menge auf ihn aus.
In dem Augenblicke, da der Karren hielt, richtete Jean Louis Louschart eine Frage an den Geistlichen von St. Louis, und mein Großvater hörte diesen antworten:
»Um Euch zu retten.«
»Nein, mein Vater,« sagte der Verurteilte mit fieberhafter Stimme und einer gewissen Ungeduld. »Wenn ich auch unschuldig in betreff der bösen Absicht bin, welche erst eine Tat zum Verbrechen macht, so sind meine Hände doch immer nicht frei von Blut. Ich muß sterben, ich will sterben. Beeilen Sie sich, mein Herr!« fügte er hinzu, indem er sich zu meinem Großvater herumwendete.
»Mein Herr,« antwortete ihm dieser und zeigte auf die furchtbaren Volksmassen, welche eben in entfesselter Wut gegen die Umzäunung anstürmten, »wenn jemand seine letzte Stunde erwartet, so hat es mit Ihnen gerade die mindeste Eile!«
Charles Henri Sanson hatte noch nicht vollendet, als ein wahrhaftes Sturmgeheul losbrach, man könnte fast sagen das Wutgebrüll des Volkslöwen. Die Umzäunung flog in tausend Stücke, und mit einemmal wälzte sich der Haufe an das Schafott heran.
Der Grobschmied, welcher schon beim Ausgange der Rue de Satory das Wort an Jean Louis Louschart gerichtet hatte, war der erste auf dem Schafott. Er ergriff den Verurteilten, zerschnitt, da die Ketten schon gelöst worden waren, die den Unglücklichen fesselnden Stricke, hob ihn in seinen nervigen Armen in die Höhe und setzte ihn auf seine Schultern, um Jean Louis Louschart so im Triumph davonzutragen.
Da entspann sich eine
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