Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
während Muschg oder Fritz Rudolf Fries noch sprechen; vorher ein lächelnder Witwer ans Mikro klopfend: «Na, Funk-Qualität isses wohl nich.» Brrr. Schon neben dem Grab, ich hatte gerade meine Orchidee und die drei Hände Erde auf die Tote geworfen, flüstert er mir ins Ohr: «Du, kommst du nachher noch mit?» Wie bei einer Vernissage oder Premiere.
13. August
Die Natur wird immer künstlicher, man selber auch: Das Violincellokonzert von Dvorák, auf das ich mich am Eutiner See so gefreut hatte, war nur in der Rückfahrt im Auto zu ertragen: Der See stank wie die Pest faulig, das Konzert fiepte dünn – aber im Wagen saßen wir fein klimatisiert und mit Stereoanlage …
Gestern abend schöner Abend bei Grass, mit Rühmkorf und Duve (der «sehr Politiker» war, etwas unangenehm stramm wie immer), Rühmkorf weich und witzig und nach einer Rückenoperation fabelhaft aussehend, voller trauriger Selbstironie, aber auch kämpferisch. Grass einerseits lieb und weich, freute sich offensichtlich auf den Abend mit Freunden und über den Besuch – andererseits hat er eben immer diese Mittelpunkts- und Herrschergeste: «Jetzt will ich reden», wird nervös und geradezu ärgerlich, wenn andere sich unterhalten und nicht auf sein Sphinxwort warten, mit dem er alle 7 Welträtsel löst.
So haben wir uns – bei übrigens sehr gutem Essen – auch lustig gestritten: Mein angesichts der immer grotesker werdenden Verhältnisse in der DDR (respektive «aus» der DDR – also der Flüchtlinge) traurig-schneidender Abschied von allem, was mal als Sozialismus gedacht war, was man selber als eben doch vielleicht noch realisierbar, und wenn auch nur in Spurenelementen bewahrbar, dachte – – – stieß bei ihm auf pures Nichtverstehen. Sozialdemokratie sei eben die Lösung, hier wie überall, und er würde nicht nur wieder in den Wahlkampf ziehen, sondern auch bei einer eventuellen Gründung einer Art sozialdemokratischen Partei in Polen mitmachen. Das finde ich erstens so grotesk wie seine Appelle, aus dem ADAC auszutreten usw. – zweitens aber den eigentlichen Punkt garnicht begreifend: Denn nicht nur hat die Idee des Sozialismus (i. e. ihre Verwirklichung) ÜBERALL versagt – sondern hat auch die Sozialdemokratie, von Weimar bis heute, versagt. Neben ein paar Glanzlichtern wie Brandts Kniefall und seiner Ostpolitik hat sie von den Schmidtschen Raketen bis zu Brandts Berufsverboten doch NICHTS Wichtiges, Bewegendes herbeigeführt – was nicht-bürgerliche Parteien genauso gut gemacht hätten, irgendwelche verkaufsoffene Samstage, Urlaubstage mehr oder Rentenerhöhungen. Woher so ein Mann wie Grass den Mut und die gleichzeitige Naivität zu diesem Kinderglauben hat und auch eine bestimmte Beschränktheit – er stellt sich NIEMALS selber in Frage, er weiß ALLES zum Thema Deutsche Einheit etwa – das nächste Streitthema des Abends, weil ich ja finde, man tut Walser und seinem Aufsatz unrecht; Grass hingegen wußte vor allem rügend wie durch ein Lorgnon zu vermerken, daß Walser ja IHN darin (indirekt) kritisiert habe – offenbar ein Sakrileg, das jedem seiner Argumente Berechtigung, Würde und Wahrheit nimmt und ihn geradezu ausschließt, wenn nicht gleich aus der menschlichen Gemeinschaft, dann aber aus der Gemeinschaft der anständigen Intellektuellen. Grass kritisieren – undenkbar und unmöglich. Der in so was genauso blinde Rühmkorf applaudiert solchem Unsinn auch noch, er habe ja Walser IMMER schon im Verdacht gehabt, «eigentlich rechts» zu sein. Sie tragen ihr Links-Sein wie eine Monstranz vor sich her, mit der sie die Welt beschwören und von sich wegweisen. Links = gut. Wie töricht. Die sind nicht in der Lage, wirklich radikal zu denken – was ja doch hieße, auch mal die eigenen Positionen zu überdenken, gar zu verändern. Sie reden seit 20 Jahren dieselben Legosätze.
25. August
Heute also zu George Sand und Chopin nach Mallorca (und, leider, weiter nach Madrid zum Interview mit Jorge Semprún).
La Residencia, Mallorca, den 27. August
Sonnenuntergang zwischen George Sands bizarren Olivenbäumen, deren Korkenziehertänze unter den Silberfächern ihrer Hüte surreale Figuren auf die harten braunen Steine zeichnen, sich windende, zuckende Schatten: Was für ein schöner Teil Mallorcas. Ruhe, herrliches Hotel (mit Shuttle-Service zu einer kleinen Badebucht). Gestern abend Fischessen auf einer Terrasse vor lila verdämmernden Bergen. Ich lese (Semprún), döse, schwimme, esse gut, trinke und rauche wenig
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