Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
war.
Seltsam auch die vollkommene Ungeniertheit. Teil der französischen Liberté (zu libertinage verkommen)?
8. Oktober
Gestern abend lustig-traurig-schöner Abend (mit zu viel Bordeaux) bei Wunderlich. Lange Debatte über das Ausrinnen der DDR (die mit der stolzen Zahl von 3,2 Millionen Geflüchteten ihren 40. Geburtstag feiert) und die vermutlichen Motive der Flüchtlinge: Ist es NUR das schönere Auto und die reifere Banane – oder sind es, verquere Dialektik, doch auch genau DIE Ideale, die ihnen mal die DDR-Erziehung eingepflanzt hat – Freiheit, Demokratie, Selbstverwirklichung.
Jedenfalls bleibt niemand unberührt von den Bildern, wie die Menschen sich aus dieser angeblich sozialistischen Falle flüchten und retten, Kinderwagen über die Botschaftszäune stemmen, ihre Autos wie alte Schuhe stehen lassen (obwohl doch DAS genau das ist, was sie am sehnlichsten erträumten und worauf sie jahrelang warten mußten).
Paris-Nachtrag: Wie kläglich und ärmlich doch der ZEIT-Empfang war. Zwar im eleganten Automobilclub, Buffet angemessen – aber das grausliche Oberlehrergequatsche von Helmut Schmidt (auf Englisch! In Paris!), der nicht mal einer Dame – Hilde von Lang – beim Betreten des Raumes den Vortritt läßt – der König und sein Gefolge. Widerlich. Statt die ZEIT zu präsentieren, gockelte er Polit-Weißsagerei vom Ende des Sozialismus, über die DDR (was wir ja ohne ihn alles nicht wüßten und begriffen) und darüber, daß «auch ich» Gorbatschow keinen Rat zu geben wüßte; er vergißt nur: Niemand hat ihn um Rat gebeten. Und niemand, keine einzige Zeitung, hat den Vortrag oder diesen Empfang erwähnt; bei dem kein einziger Künstler, kein Schriftsteller, kein Politiker war – dafür aber die deutschen Journalisten. Denen muß man ja unbedingt und für viel Geld die ZEIT vorstellen. Dieses Haus hat keine Seele – denn auch für eine Einladung (wie im Privaten) braucht es «Wärme»; wem die Menschen egal sind, der gibt eben kalte Buffets.
Parkhotel, Frankfurt, den 12. Oktober
Das vergiftete Messe-Rokoko: Während die DDR wackelt und wahrlich pathetisch-tragische Scenen im täglichen Fernsehen sind, tanzt man hier à huis clos um die Literatur; bzw. eben nicht um die Literatur, sondern um literarische Karriere-Intrigen: Einen Angriff – in den facts sicherlich berechtigt – auf den seine Autoren betrügenden Unseld im SPIEGEL startet der neue Redakteur dort («Ich bin sehr gelobt worden») nicht DER SACHE wegen, sondern weil er weiß, daß in diesem Rattennest man Ober-Ratte wird, wenn man sich als besonders bissig erweist. Kein Lob oder Verriß eines Buches gilt im Grunde diesem Buch, sondern immer ist das munitioniert von irgendeinem «dem werd ich’s mal zeigen». Das verkommt zum Gesellschaftsspiel; so geht jener Redakteur allen Ernstes IN UNSELDS PRIVATHAUS zu einem Empfang. Niemand erwartet mehr, daß jemand mit dem, was er formuliert, IDENTISCH ist.
18. Oktober
Die Sekretärin meines Arztes bittet mich ins Wartezimmer, öffnet die Fenster (weil es wirklich unangenehm nach billigem Parfum stinkt) und sagt: «Diese Ausländer, sie stinken oder parfümieren sich billig – keine Ahnung von Jil Sander.»
Hochhuth am Telefon, nachdem ich beiläufig den Namen Hildesheimer erwähnt habe: «Was, der lebt noch – ich dachte, der ist längst schon tot.»
Wann sagt man das über unsereins?
20. Oktober
Gestern kam – in zwei Worten: «Kein Interesse» – die Ablehnung meines Visums für die DDR: Mischung aus Ärger und Schmerz. Als sei ich, weil ich Unbequemes sage, deren Feind, vor dem man sich qua Grenzpfahl schützen muß (in Wahrheit glaube ich, daß ich mehr «für» die DDR getan habe als so mancher mit … zig Publikationen). Enttäuschung, weil ich offenbar wie der reichgewordene Sizilianer aus New York dort gerne «bei den Müttern» rumkutschiert wäre. Jemand wie ich ist eben ÜBERALL unerwünscht, eckt immer und allenthalben an – Gräfinnen nie.
28. Oktober
Ganz Deutschland in einem Satz. Bei einer – gewaltlosen – Demonstration von hunderttausend in der DDR sagt der einsatzleitende Polizeioffizier: «Sie können hier doch nicht einfach Kerzen abstellen! Wer soll das denn saubermachen?» Langes Gespräch mit Thomas Brasch. Er heiratet (eine Ostberlinerin, natürlich, die ohne Bad, Telefon und Klo im Prenzlauer Berg wohnt) – verquere Wege einer heimlichen Homosexualität??: Kaum stirbt der Vater, wird geheiratet.
Seine Erzählung von des Vaters Beerdigung, eine
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