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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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als die Marie-Antoinette der 50er Jahre durchschimmert: nie hinhörend, Probleme wegkichernd, Mode oder Journale oder die heutige Form des Klatsches, das Telefon (wobei fast immer, wenn sie telefoniert, sie noch mit jemand anderem spricht, und sei’s nur ein «Domestik»), nie ein Buch WIRKLICH lesend, gar zu Ende, immer nur «Information», alles wissend, nichts kennend – – – also ganze Seiten über die rasende Flüchtigkeit, die Gesellschaft der Friseure, Modistinnen, Dekorateure sind BUCHSTÄBLICH wie Seiten über sie.
    Die nicht zuhören kann, selbst am Telefon «flieht»: «Ach, du hast Probleme, welche, ach so, ja, ich muß jetzt runter, ich habe Leute im Salon …» und am Tag 2mal anruft, um über IHR schreckliches Schicksal zu klagen!
    Kampen, den 13. Juni
    Mittelmeerische Hitze – und ein kraus-hysterischer Tag gestern: In den verkramten Nachlaßteilen von Mary Tucholsky, die mir ihre Sekretärin nach dem Tod peu à peu zuschickte, zwischen ausgebrochenen Ring-Perlen, alten Reiseweckern und einem mottenzerbissenen Fuchs, lag auch ein Stenogramm. Das habe ich jetzt «dechiffrieren» lassen, und es stellte sich heraus als, in IHRER Handschrift, der Text von Tucholskys berühmtem Abschiedsbrief an sie. Da zugleich Spekulationswellen von Tucholskys Ermordung heranbrausen (mir uneinsichtig: von wem und warum?), schoß wildestes Zeug durch mein Gehirn: Mary Tucholsky habe diesen Brief gefälscht, selbst geschrieben etc. – und tatsächlich ist er auf einer anderen Schreibmaschine geschrieben als Tucholskys ziemlich zur selben Zeit geschriebener an seine Schweizer Geliebte Nuuna. Ich war einen Abend, eine Nacht lang in Panik: Das konnte und wollte ich nicht unterstellen, ich «bot mein Wort aus 25 Jahren Freundschaft, wie perforiert immer», daß sie zu einer so ungeheuerlichen Fälschung nicht imstande gewesen wäre. Bis – aber darauf mußte ich erst kommen – ein Vergleich mit den Briefen an Hasenclever, ebenfalls zur selben Zeit geschrieben, klarstellte: Tucholsky hat 2 Schreibmaschinen gehabt.
    Lehre: Wie rasch sind Menschen bereit, dem anderen – dem Toten – Ungeheuerlichstes zu insinuieren.
    War so KO, daß ich mit Schlaftabletten verschlief, mir den heutigen, märchenhaft schönen Tag durch die nur zögernd abklingende Nervosität ruinierte. Na, das zumindest bin ich Mary Tucholsky schuldig.
    13. Juli
    Kopfweh, müde, matt, verdrossen.
    Gestern abend Drinks mit Pressetante von Rowohlt, die wie eine lästige Pflicht die – immerhin – über 20 Buchhandlungs «meldungen» für Lesungen mit mir besprach – – – – – aber ihre Augen über Rühmkorf («unseren wichtigsten Autor») verdrehte und von den 65.000 verkauften Jelinek-Exemplaren schwärmte. Ich bin ja zum Glück kein neidischer Mensch und freue mich über den Erfolg eines Kollegen – aber es gehört sich doch nicht: Mit MIR muß sie doch über MICH und meine Bücher sprechen, nicht über ein Rühmkorf-Gedicht, sondern über mein Buch? (Das sie offensichtlich garnicht gelesen hatte.)
    Dafür läßt Rühmkorf sich als den «größten lebenden Dichter deutscher Zunge» in einem Verlagskatalog feiern; liest sich schon rein sprachlich wie eine Parodie aus Rühmkorfs Feder …
    Das Wort, das diese Tante am meisten benutzte (über Presseleute, Fernsehrunden oder Schriftsteller), hieß «hochkarätig».
    Das vollkommen schockierende Erlebnis, in den alten Briefen an mich zu lesen, heute in Dutzenden von Erich Arendt; nicht nur, was für eine Freundschaft da mehr und mehr gemauert wird – sondern: die wunderbare Neugier, der Hunger nach Kultur. Wer ist Jürgen Becker, was schreibt ein Hubert Fichte, bitte die weiteren Bände Jouhandeau, wie ist der neue Aragon, habe deinen Artikel über X gelesen und deine Sendung über Y gehört, habe gestern die Nacht durch mit Peter (Huchel) gestritten oder: Ich finde, daß Karl Mickel doch nicht … Wo gibt es derlei heute noch? KEIN EINZIGER Literat schreibt auch nur EINEN solchen Brief an einen Kollegen – sie SPRECHEN auch nicht so und darüber –, wir sitzen und reden über Geld, über die Angst vorm Alter und – thronend auf endlosen Bänden von Veröffentlichungen – über unser Unterdrücktsein. Der Vergleich mit diesem großen alten Mann ist geradezu ekelhaft – da war Bildung, Neugier, Lebenstiefe. Hier ist Geplapper, und die einzige Unersättlichkeit ist die des Kontos.
    Hotel Quisiana, Capri, den 21. Juli
    Mißvergnügte Abreise von Capri – vielleicht, weil unausgeschlafen (5 Uhr

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