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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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geweckt): Heute geht mir das Opernhafte, ewige Gelache, Erzählerei, Schäkerei auf die Nerven; beim Zoll, der «Schaffner» am Boot, beim Check-in: stets ein Gesinge und Gealbere (und natürlich kein Service – Flughafenrestaurant geschlossen, Papp-Becher-Bar unzumutbar).
    Auch die schamlose Handaufhalterei enerviert mich: Ich bezahle für den Kofferservice Hotel = Boot; aber natürlich will der Kerl, der die Koffer aus dem Zimmer holt, der Portier, der Mann mit den Koffern am Hafen Geld, der Mann mit den (vom Hotel mit Aufschlag besorgten) Boots-Tickets am Hafen, der Mann mit den Gepäckkarren am Flughafen: jedermann.
    In Wahrheit hat meine schlechte Laune ihre Ursachen wohl eher im fehlgeschlagenen «Abenteuer»: Ein besonders netter, mitteljunger, schlanker, schnauzbärtiger, behaarter, zierlicher Mann bewirtete mich gestern morgen im (den Landgrafen von Hessen gehörenden, von ihr gemieteten) Palazzo der Presidentezza des Malaparte-Preises Graziella Condardo. Große, rasche gegenseitige Sympathie, ich lud ihn zum Abendessen ein, er sagte (angeblich?) extra eine Verabredung in Neapel ab, es war ein Flirt at its best : deutlich, aber nicht grob. Auch wieder doch immerhin so deutlich, daß ich sagte: «Let your imagination work, I’m expecting a very special dessert.»
    Nach herrlicher Boots-Umkreisung der Insel (mit Graziellas Chauffeur, der sich quand-mème regelrecht bezahlen ließ: kein Witz – er wies sogar den anfangs gebotenen Betrag zurück und verlangte das Doppelte) abends Drinks im märchenhaft gelegenen Haus eines Bankers, Sigmar Mauricio, strahlend, holt mich dort ab, wir gehen durch die Dämmerung, unterwegs noch ein Drink über einer in der Abendsonne verschwimmenden Bucht – tausend kleine Flirt-Funken stieben, verbal und non-verbal, mieses Essen und billiger Wein in einem dafür zauberisch gelegenen Gartenlokal über dem Meer und unter orangenem Vollmond, zart-frivole Witze über das «ausstehende Dessert» – und plötzlich, nach «deutlichem» Weg zurück, stehen wir im Ort, auf der kreischend operettenhaften Piazza, wo er nahezu kommandierend fragt: «Hier noch einen Drink?»
    «Hier?»
    «Ja, wo sonst?»
    «Well, either at your place or at my Hotel, whatever you prefer …»
    «Just to make things clear – I’m not in the mood to have sex with you.»
    Peng.
    Als träte jemand mitten im Gespräch auf die Leitung. Ich bin/war derlei seit Jahren nicht gewohnt (und war jünger!, als es mir öfter passierte). Wie vom Donner gerührt, betäubt ging ich mechanisch-höflich (um mich nicht rüde einfach auf dem Absatz umzudrehen) mit – und bekam ein Glas Wasser angeboten!! Es war also nichts für einen after-dinner- Besuch vorbereitet. 2 schweigende Cigarettenlängen – au revoir, thank you for the evening. Das war’s.
    Scheußlich. Auch, weil es ja – ohne «Vollzug» – doch ein Betrug war (im Kopf bereits begonnen) – und dann dennoch vor die Tür gestellt zu werden …
    Ich gebe ja derlei üblicherweise nicht ins Tagbuch – aber diese Kränkung mußte ich versuchen, durchs Aufschreiben loszuwerden.
    Nachmittags: Sitze im Baur au Lac, warte auf Hochhuth (bis zum Weiterflug nach Hamburg), und der «schwarze Tadzio» rumort in mir. Liegt es an mir, lasse ich zu viele «Raketen steigen», wenn ich werbe? Ich halte das nicht für Imponiergehabe, wenn ich von García Márquez und Baldwin, Cioran und Pasolini, Lévi-Strauss und Guttuso erzähle, Komisches oder «Interessantes», ich kenne/kannte die ja wirklich (und im eigenen Tagebuch muß ich ja nicht lügen!) – aber vielleicht ist das Feuerwerk zu bunt, sind die Ballons zu groß; und verprellen, «blenden»? Gerd erzählt ja heute noch von meinem «Wasser»(i. e. Wort-)Schwall des 1. Tages, der ihn entsetzt, betäubt habe. Ich will mit so was nicht angeben, sondern «mit Sprache streicheln», mit dem Gehirn flirten; und das mag – zumal für einen kleinen neapolitanischen Lehrer – zu viel sein. Mein alter/ewiger Fehler: Ich mache die Menschen sich nichtig fühlen, unterlegen; und das weckt instinktiv Aggressionen: Beruflich fliege ich raus, publizistisch werde ich ermordet, schriftstellerisch vernichtet – und erotisch (hier) abgewiesen oder (früher) betrogen.
    Seltsam auch, wie meine Dumpfheit, Verdrossenheit verflogen war – die Geigensaiten waren ganz gespannt, alles sprühte, alle Poren – sonst so grau-verklebt – waren hungrig geöffnet, ich trank den orangenen Mond im grünen Wein, sprach, rauchte, aß, gestikulierte,

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