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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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definieren, was das ist, sein könnte, sein soll: dieser «neue Sozialismus», von dem doch nie irgendwo ein Stückchen realisiert worden ist/werden konnte. Sie klammern sich an eine vage Idee, an «meine Ideale», wie Stefan Heym es nennt, die er «nach 50 Jahren» nicht aufgeben kann und will (was ich MENSCHLICH verstehe) – aber das ist doch noch keine Position, keine Kategorie? Niemand von denen ist bereit, wirklich RADIKAL zu denken und das Ganze eventuell zu verabschieden, ein altes, verbrauchtes Modell, das eventuell gut war als Impuls und Korrektur im 19. Jahrhundert und auch noch in unseres hinein – nun aber ausgedient hat wie die Dampfeisenbahn.
    So war es ein Riesenspagat, der mich zerrissen hat: die intellektuelle Ebene, die moralische, die «biographische» und die der Freundschaft, z. B. mit Schneider, die hielt und hält über nun 3 Jahrzehnte (praktisch ohne Kommunikation).
    Ich kann noch immer nicht schlafen, rauche zu viel, bin verwirrt und zerwirbelt – möchte am liebsten morgen wieder hin – und auch nicht.
    Das ist eine der nächsten «zentralen» Fragen: Soll man sich überhaupt SO sehr «der Welt» aussetzen – oder die zynische Heiner-Müller-Position einnehmen? GROSSE Künstler haben sich immer auch innen verschlossen gehalten – ich habe das nicht nur selber gerade eben in meinen Rezensionen der Thomas-Mann-Tagebücher hervorgehoben, oder dem Flaubert/Turgenjew-Briefwechsel, sondern ich kenne ja auch den Kafka-Satz: «Weltkrieg ausgebrochen – war im Schwimmbad.»
    Grand Hotel, Berlin, den 18. Dezember
    Nun bin ich eine Woche zu Hause vom «zu Hause» – und alles klirrt in mir nach vor Nervosität, Unsicherheit auch (u. a. über die Ja-oder-nein-Qualität meines Artikels). Schwere Schlafstörungen.
    Störung des Gleichgewichts (und das ist ja beabsichtigt) auch durch die Diskrepanz zwischen privater Akklamation (per Brief) und öffentlichem Gemetzel; KEINER von denen, die mir entweder mündlich oder schriftlich Freundliches sagen/schrieben zu meiner Arbeit, ANTWORTET auch nur auf einen Brief, in dem ich etwa schreibe: Warum sagen Sie es nicht ein Mal, EIN EINZIGES MAL, öffentlich? So an Carola Stern und Peter Schneider und Bahr, schließlich nicht von mir aus der Luft gegriffen, sondern als REAKTION auf allerlei Freundlich-Lobendes. Nein, nicht mal der EINGANG eines solchen Briefes wird mir bestätigt.
    Auch die DDR-Vorgänge, diese unangenehm rasche Erholung der Verbrecher von der SED (die sich expressiv verbis NICHT umtaufte, um ihr Vermögen nicht einzubüßen – aber WOHER hat sie das???), die schon wieder keßlippig von sich als der «wahren Kraft im Lande» reden, diese ganze widerliche Unappetitlichkeit: Hunderttausende haben doch mitgemacht, noch bis vor TAGEN überwacht und bespitzelt und Menschen gequält, zumindest gedemütigt (Pläne für «Internierungslager» der STASI für «politisch Labile» wurden erst gestern gefunden) – – – und nun sind es bemitleidenswerte alte Männer, die, wie Herr Hager, sich beschweren, sie hätten keinen Garten mehr, nicht mal mehr einen Balkon. Man findet sich psychisch und moralisch und politisch überhaupt nicht mehr zurecht.
    Kampen, den 20. Dezember
    Der erste «Vor-Weihnachts-Abend» in meinem geliebten Sylt, der wie immer warm-behaglich-schönen Wohnung, das Auto voll Blumen, Kuchen, Wein (wie im Märchen) und … zig eingefrorenen Köstlichkeiten. Morgen macht der Hausmeister die Kerzen an der Tanne auf der Terrasse an – deutsche Weihnacht kann beginnen.
    Die ja wohl dies Jahr, ÖFFNUNG DES BRANDENBURGER TORS, etwas ganz Besonderes sein wird – – – und da (und dafür) mußten Menschen sterben!
    Wie immer sind unsere lieben Intellektuellen bei alldem mehr an SICH interessiert als wirklich am «Weltgeschehen»: Brasch macht sich lustig über Heiner Müller und dessen «entsetzliches» Gedicht, Hochhuth erzählt von den (Telefon-)Interviews, die er mit Christoph Hein, Christa Wolf, Stephan Hermlin gemacht hat – – – aber man erfährt nicht, was DIE gesagt haben, sondern nur, was er über die einzelnen denkt. Wobei Hermlins Position – selbst in dem eisig-kurzen Telefonat, das ich neulich mit ihm führte – besonders dubios ist: «Ich bin seit 1947 in dieser Partei und bleibe ihr treu» – als sei «Treue» in sich eine Tugend, egal, WEM man treu ist. Merken die nicht, daß sie inzwischen alle wie die Nazis reden? Jeden Tag wird nicht nur eine neue Luxusvilla, ein neues privates Jagdrevier, ein neues

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