Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Millionenkonto in der Schweiz entdeckt, sondern auch die Verliese der STASI mit bunkerähnlichen Anlagen, elektrischen Schaltstellen und Plänen für Internierungslager noch NACH Honeckers Rücktritt (Lager für SED-Gegner!) – – – aber man dichtet und ist «treu».
Ich bin kurz davor, mein Maul aufzureißen.
Wobei mein «Maul-Aufreißen», i. e. mein ZEIT-Artikel, mir ausnahmsweise mal bekommen ist – bis zu, höre und staune, einem geradezu emphatischen Anruf des neuen FAZ(!!!)-Literaturredakteurs Frank Schirrmacher, der meinte: «Die ganze Redaktion hat sich Ihren Artikel aus den Händen gerissen, so etwas habe ich – außer bei Enzensberger – seit Jahren nicht gesehen, wir waren neidisch auf DIE ZEIT – was man, seit Sie weg sind, ja selten ist.»
Kampen, den 22. Dezember
Das BRANDENBURGER TOR ist auf!
Ein – auch mich – bewegender, wirklich historischer Augenblick (dem KEINER der offiziellen Redner gewachsen war – und der die VOLLKOMMENE Sprachlosigkeit der Fernsehfritzen offenbarte, die nur «Jetzt winken die Menschen» zu sagen wußten, wenn man winkende Menschen sah; und ansonsten sich selber filmten bzw. ihre technischen Schwierigkeiten kommentierten. Affen).
Wie tief mich doch die Vorgänge in der DDR berühren, zeigt ein (scheußlicher) Traum, in dem Paul Wunderlich mich beim Ansehen nackter Demonstranten im TV bespuckte, woran – Gott sei Dank nur in diesem Traum – unsere Freundschaft zerbrach. Ich interpretiere das so: Wunderlich ist ja, was Emotionen betrifft, mein Antipode, er sieht Geschichte lächelnd und spottend aus der Zuschauerperspektive, ähnlich der Heiner-Müller-alias-Brecht-Attitüde. Ich hingegen quäle mich mit der (Selbst-)Auseinandersetzung, ob ich mich nicht ZU sehr eingelassen habe, mein Leben lang, auf «Geschichte», will sagen: Politik.
Träume, diese schwarzen Blasen der Seele.
Kampen, den 30. Dezember
Das Jahr endet also – Bilanz?
Die politische kann man garnicht ziehen, so rasende Entwicklungen hat es gebracht; rasend auch im doppelten Sinn des Wortes: 60.000 Tote in Rumänien, größtenteils so viehisch hingemetzelt, daß man es nicht faßt – sind diese wie Schäferhunde gezüchteten Killer überhaupt noch Menschen? Was man doch mit gewisser Erziehung aus «Menschen» alles machen kann. Misanthrop könnte man werden.
Und jedenfalls muß man jedes Fortschrittsdenken verabschieden. Hirnrissig, dumm und uneinsichtig dieses Sich-Klammern, immer noch und trotz allem, an den «wirklichen Sozialismus» und wie die Worthülsen alle so heißen. Wieso doch diese gewisse Lustlosigkeit, oft gar Verdrossenheit? Ist das die abnehmende erotisch/sexuelle Spannung? Womit ich nicht den seltener stehenden Schwanz meine, sondern die «Gesamt-Neugier» auf Leben, auf Erfahrung, auf das «Außen» – die ja, je jünger, desto gieriger ist (ein Kind steckt erst mal alles in den Mund oder faßt alles an – probiert aus; ich habe das Gefühl, alles ausprobiert zu haben, die Museen oder Inscenierungen oder Hotels dieser Welt zu kennen und nichts mehr «in den Mund stecken» zu wollen – mal den obszönen Beiklang außer acht gelassen – als meine Zigarre zum Rotwein). Abenteuer mache ich buchstäblich nur noch auf dem Papier.
1990
Romantik Hotel «Alte Post», Allgäu, den 7. Januar
Erschöpft zurück (in München) von Antje Ellermanns 50. Geburtstag: ein Bauernfest, liebevoll und simpel, aber ich bin derlei nicht mehr gewachsen; ich kann nicht so viele Stunden mit so vielen Menschen verbringen, lachen, witzig sein, Bla-Bla reden. So stehe ich mir bei «Festen» selber im Wege – gehe zu früh weg, verstehe einen herrlich obszönen, betrunkenen Bauernburschen nicht bzw. zu spät (wenn er eine eindeutige Geste macht), mag weder tanzen noch «ausgelassen sein». Ich gelte als so «gesellig» – und in Wahrheit langweilt mich Gesellschaft mehr und mehr: die ihr wenige Monate altes Baby wie eine Brosche tragende Eva Matthes oder der in 4 Minuten 7 Bier trinkende Harry Rowohlt. Ich weiß mit all diesen Menschen nichts anzufangen – und es waren zu viele: 100.
Hotel Vier Jahreszeiten Kempinski, München, den 9. Januar (seit 10 Minuten Tucholskys 100. Geburtstag)
Mit Joachim Kaiser bei Mozarts «Konzert für Klavier» und Schuberts «Symphonie Nr. 9» («aufgefunden») – reich und bewegend; und freundschaftlich. Er ist ein sympathischer Weingast, eben eine andere Qualität als irgendwelche SPIEGELjournalisten; er ist gebildeter – oder/und deshalb trauriger,
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