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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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holte, wann und wie er wollte, und der mir noch AUF DEM STERBEBETT (auf dem sie ihn salben durfte), wenige Minuten vor seinem Tode (da lügt man ja wohl nicht?), sagte: «Ich habe niemanden in meinem Leben so geliebt wie dich.»
    28. November
    Mary Tucholskys Geburtstag (habe Blümchen aufs Grab legen lassen) – wie scheußlich, was sich seit ihrem Tod an Ranmachereien und gewerbchengeilen Leuten auftut.
    Das ist eine eigenartige Vorbereitung zu meiner nun endgültig für kommende Woche geplanten DDR-(respektive Ost-Berlin-)Reise, die mich SEHR nervös macht. Wie wird es sein, dort die Straßen entlangzugehen, in denen ich verliebt und verzagt war, meine «Karriere» begann – ich meine damit: begann zu lernen, wie man arbeitet –, wo ich mit Marianne Dreifuß oder Walter Czollek oder Jochen Mund entlangging und mich traf, mit den Kommilitonen, mit Ruthchen, wo ich weinte, als die 17.-Juni-Panzer kamen, und wo ich vergnügt in Ruthchens kleinem offenem Auto auf dem Verdeck sitzend und singend leichtsinnig war, lachte, trank. Ich merke nur an diesen kleinen Rück-Spiegelungen, WIE entscheidend diese Jahre waren, wie vollkommen prägend. Ich rieche jede Ecke und schmecke jeden Rauch.
    Keiner – wie traurig – versteht das: Sie verstehen nicht mal, daß es für mich WICHTIG ist, dorthin mit meinem feinen Superauto zu fahren, es ihnen zu «zeigen», vorzufahren beim Stasi-Gefängnis oder vor der Uni oder meinem alten Verlag – dort, wo man mich gedemütigt, beleidigt, auch eingesperrt hat. Gewiß, es ist auch ein Stück lächerliche «I made it» -Ideologie des in New York reich gewordenen Sizilianers, der nun mit dem Ami-Schlitten durch Palermo segelt. Na und.
    Einzig Wunderlich versteht, was in mir vorgeht, und sagt bitter lachend, als ich ihm von den «Verboten» erzähle: «Wie immer – Sie sollen nicht Sie sein.»
    Schlafe schlecht aus Aufregung über den morgendlichen DDRbesuch, träume mein Leben zurück. Bin sehr aufgeregt.
    3. Dezember
    Von geradezu zitternder, wohl auch etwas lächerlicher Aufgeregtheit wegen meiner DDRreise, die ich am Montag starte. KANN KAUM NOCH AUTO fahren, verliere/vergesse alles, bin fahrig und nervös, schlafe nur mit dicken Adumbrans.
    Noch Stichworte zur Zoologie/Soziologie: Die Dönhoff, obgleich eingehüllt von Laudationes und Gratulationen zuhauf, hat genau bemerkt (was ja ihr schlechtes Gewissen zeigt), daß von mir KEINE SILBE eines Glückwunsches kam und keine Zusage, an ihrem heutigen Jubelfest in der Kampnagelfabrik teilzunehmen. Sie sagt zu ihrer Sekretärin (und die dann zu meiner und die zu mir): «Man muß doch mal das Vergangene begraben.» Was für ein klassischer Satz, der das GANZE DEUTSCHLAND umfaßt. Erst bringen sie die Menschen um, und dann mögen die Gehenkten doch nicht so nachtragend sein, bitte sehr.
    Mich interviewt jemand (für VOGUE), der mir sogar wohlgesinnt ist, lobpreist meine Zivilcourage und fordert mich geradezu auf in dem Gespräch, doch «weiterzukämpfen». Als ich den widerlichen Denunziationsjournalismus z. B. von TEMPO kritisiere (etwa im Falle Grass), sagt der Mann: «Darf ich den Titel der Zeitschrift weglassen – ich arbeite da gelegentlich mit und würde dann keine Aufträge mehr bekommen.» Danach fragt er: «Warum sind Sie eigentlich nach der Affäre bei der ZEIT geblieben?»
    Grand Hotel, Berlin, den 12. Dezember
    Vollkommen durcheinander von der Woche in Berlin (Ost), meine «Heimkehr» – und auch wieder nicht. Entsetzt über das Schrott-Leben dort, der alte Kommilitone Schneider nicht mal 1 Bad, eine Dusche in der Speisekammer, aber sie funktioniert nicht – und ich habe zusammen 4 Badezimmer! (Obwohl ICH dort bestimmt auch eins hätte – er ist gründlich, begabt und intelligent – aber indolent und langsam bis zum Faulen.)
    Dennoch ist’s MEINE Stadt, ich liebe den Himmel, die Farben, den Dialekt, und wenn der Taxifahrer auf die Frage nach seinen Kindern sagt: «Icke? Eens.», dann ist es für mich wie Musik, und wenn zwei Knirpse mein Auto anhimmeln (auch noch, als ich vom Grab Erich Arendts und Brechts kam), einfach sagen: «Kenn wa ma mitfahrn, fährste uns zum Weehjnachtsmarjkt?», dann muß ich so lachen, daß ich die kessen Dreikäsehochs wirklich zum Weihnachtsmarkt fuhr: «Icke? Zehn.»
    Die Diskussionen und Gespräche kann ich hier nicht aufnotieren, vieles steht ja auch im ZEITartikel. Beunruhigend nur das eine: NIEMAND, kein einziger Mensch von all den klugen Leuten, konnte mir auch nur andeutungsweise

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