Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Story in sich: vorn Ehrenbataillon der Volkspolizei mit Ehrenbezeugungen, die er, der Dissident, mit seiner Schwester «abschreiten» muß, hinter ihm Margot Honecker. Und er, der noch den DDR-Paß hat («Den BRD-Paß habe ich zurückgegeben» – auch seltsame Verquertheit, dieses Sich-Klammern an das «Ich bin Bürger der DDR» – – – aber nicht dort leben wollen), wird zugleich für die bevorstehende BE-Aufführung seines Stückes «Rotter» als «BRD-Autor» angekündigt.
2. November
Thomas Brasch: «Wenn alle in dieselbe Richtung marschieren, kippt die Welt um» – als Kommentar zu den Massendemonstrationen in der DDR.
Hotel Kempinski, Berlin, den 4. November
Einer der vielleicht aufregendsten Tage jüngster deutscher Geschichte – an dem ich, ausgerechnet, in der Akademie meine Gedanken zur deutschen Einheit vormittags vortrug: Genau zu dieser Stunde demonstrierten ca. 1 Million Menschen in Ostberlin. Und ich aß gestern abend mit Ruth’chen, unserer alten Berliner Zeiten gedenkend. Kreisel der Geschichte.
Jetzt – nach ausgefallenem Thalbach-Macbeth – Abendessen mit Hochhuth, der für Springer (! – während ich für die ZEIT keine Einreise erhalte!!) in Ost-Berlin war.
Neugierig, was er erzählen wird.
Hotel Kempinski, Berlin, den 5. November
Hochhuths sonderbare Kälte (wohl die des Dramatikers, der ja noch mehr als ein Epiker mit dem «bösen Blick» beobachten muß): unge-be-rührt von dem Tag in Ostberlin, ohne jede Emotion, eher amüsant-lächelnd über die diversen Stefan Heyms, Stefan Schütz’, Christa Wolfs berichtend, die noch immer irgendeinen «wirklichen, wahren, humanen» Sozialismus gerettet sehen wollen – weil sie sich das Jahrzehnte-Debakel ihres Lebens nicht eingestehen wollen.
Aber mit derselben distanzierten Amüsiertheit erzählt er vom Scheitern seiner Ehe und wie er eben einfach nicht auszieht (seine Frau will ja, daß er geht).
12. November
Herzzittern bei all den Vorgängen in der DDR, man schämt sich der Tränen nicht. Es gibt eben doch ein «deutsches» Grundgefühl – von Inge Feltrinelli, die aus Villa Deati anruft, bis zu meiner Schwester in Mexiko: Die Aufregung und tiefe Rührung ist allenthalben.
Selten hatte ich mit einem Artikel SO recht wie mit dem neulich: Nun sagt Herr Bahr: «Die Wirklichkeit habe seine Phantasie überholt.» Eben. Weil er keine hatte. Fast wörtlich sagt, sich beknirschend, der Tapeziermeister Kurt Hager: Er habe sich vom Leben entfernt. Das mußten so manche mit dem Leben bezahlen.
Lief gestern den ganzen Tag durch die Stadt, «Zonis gucken», wie das selbst-zynisch heißt: Es sind dieselben Menschen, Deutsche, berlinern herrlich – und sind doch ganz anders, sehen anders aus. Eine Diktatur prägt, zerquetscht auch Gesichter. Mal von den ulkigen «funny little cars» abgesehen. Sie weinen vor den Schaufenstern, sind vollkommen überwältigt, wenn man 20 Mark schenkt («So viel Geld»). Ich bummelte durch die Stadt und steckte jedem Trabi eine Tafel Schokolade an die Windschutzscheibe. Ist das eine koloniale Geste, Glasperlen für die Neger?
Vorgestern abend mit Platschek essen, der wie immer grotesk-witzig war und als erstes wieder eine seiner erfundenen Weibergeschichten parat hatte: Er habe doch so vielen Frauen in der DDR die Ehe versprochen – und nun habe er Angst, die kämen alle an.
Umgekehrt «durfte» Brasch nun doch nicht heiraten – in Dresden auf dem Standesamt fehlte ihm die «PKZ»-Nummer, was immer das heißt; man muß sich das Wort nur mal laut aufsagen …
Noch einmal davongekommen. Was ihn am meisten bei den Demonstrationen beeindruckt habe, sei die Schwulengruppe gewesen …
Hôtel Lutetia, Paris, den 16. November
Sympathisch-intelligent-unkomplizierter Nachmittag bei/mit Françoise Sagan. Wohnung mehr burschikos als schön, unprätentiös.
Herrliche Pariser Straße (rue du Cherche-Midi) mit Buchläden, Lampen-Montierern, Bistros, Blumengeschäften und alten Schaufenstern, in denen Holzhände (zum Aufspannen von Handschuhen) oder Seidenblumen in Krims-Krams-Vasen dekoriert sind.
Hôtel Lutetia, Paris, den 17. November
Dieser größenwahnsinnige Zwerg Augstein: schickt mir doch über sein/mein Büro ein Telefax und bittet um dringenden Anruf – nicht ihn, nein, seinen Sekretär. Unruhige Nacht. Heute morgen: Er will (m)einen Botero kaufen!! Diese Leute sind verrückt; ihr Geld und ihre Pseudo-Macht hat sie vollständig versaut. Habe den Herrn Wurm höflich an Christie’s verwiesen (wo ja
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